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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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3.

Bei aller Zähmung und Mässigung seines äusseren Ge-
bahrens blieb dem dionysischen Culte, als unterster Grund
seines Wesens, ein oft drohend oder lockend hervorscheinen-
der Zug ins ekstatisch Ueberschwängliche. Und so mächtig
war noch bei der Verschmelzung apollinischer und dionysischer
Religion, wie sie in Delphi sich vollzog, der ekstatische Trieb
in dem dionysischen Wesen, dass von ihm etwas in den, ur-
sprünglich aller Ekstase urfremden apollinischen Cult hinüber-
floss.

Die Begeisterungsmantik, welche durch Steigerung der
Seele des Menschen ins Göttliche dieser Kenntniss des Ver-
borgenen verleiht, ist nicht von jeher griechischer Religion eigen
gewesen. Homer kennt wohl die "kunstmässige" Weissagung,
in der eigens geschulte Seher aus der Deutung frei erschei-
nender oder von Menschen absichtlich ins Spiel gebrachter
Zeichen den Willen der Götter in der Gegenwart und für die
Zukunft zu erforschen wissen. Und dies ist die Art der
Weissagung, die Apoll den Sehern verleiht 1). Aber die aus
momentaner Begeisterung kommende, "kunstlose und unlehr-
bare" Wahrsagung 2) ist den homerischen Gedichten nicht
bekannt 3). Neben den selbständig thätigen zünftigen Wahr-

greifen konnte, führt in deutlichem Bilde Plutarchs Erzählung von den
in ihrer Raserei nach Amphissa verirrten Thyiaden (mul. virt. 249 E) vor
Augen, der Rapp p. 22 vergeblich thatsächlichen Gehalt abzusprechen
versucht. Anderes ist vorhin gelegentlich berührt.
1) en dia mantosunen ten oi pore Phoibos Apollon Il. 1, 72.
2) to atekhnon kai adidakton (tes mantikes) toutestin enupnia kai enthou-
siasmoi -- [Plut.] de vita et poes. Hom. 2, 212. Homerisch ist nur e ton
emphronon zetesis tou mellontos dia te ornithon poioumene kai ton allon
semeion (Plat. Phaedr. 244 c.).
3) Jener Pseudoplutarch a. a. O. findet freilich in dem seltsamen
(übrigens jedenfalls von später Hand eingelegten) Bericht von Theo-
klymenos' Verhalten unter den Freiern, Od. 20, 345--357 die Zeichnung
eines entheos mantis, ek tinos epipnoias semainon ta mellonta, aber in
Wahrheit ist dort von unnatürlicher Erregung nicht des Sehers, sondern viel-
mehr der Freier die Rede. S. Lobeck, Agl. 264. Aus Il. 1, 92 ff. 7, 44--53
3.

Bei aller Zähmung und Mässigung seines äusseren Ge-
bahrens blieb dem dionysischen Culte, als unterster Grund
seines Wesens, ein oft drohend oder lockend hervorscheinen-
der Zug ins ekstatisch Ueberschwängliche. Und so mächtig
war noch bei der Verschmelzung apollinischer und dionysischer
Religion, wie sie in Delphi sich vollzog, der ekstatische Trieb
in dem dionysischen Wesen, dass von ihm etwas in den, ur-
sprünglich aller Ekstase urfremden apollinischen Cult hinüber-
floss.

Die Begeisterungsmantik, welche durch Steigerung der
Seele des Menschen ins Göttliche dieser Kenntniss des Ver-
borgenen verleiht, ist nicht von jeher griechischer Religion eigen
gewesen. Homer kennt wohl die „kunstmässige“ Weissagung,
in der eigens geschulte Seher aus der Deutung frei erschei-
nender oder von Menschen absichtlich ins Spiel gebrachter
Zeichen den Willen der Götter in der Gegenwart und für die
Zukunft zu erforschen wissen. Und dies ist die Art der
Weissagung, die Apoll den Sehern verleiht 1). Aber die aus
momentaner Begeisterung kommende, „kunstlose und unlehr-
bare“ Wahrsagung 2) ist den homerischen Gedichten nicht
bekannt 3). Neben den selbständig thätigen zünftigen Wahr-

greifen konnte, führt in deutlichem Bilde Plutarchs Erzählung von den
in ihrer Raserei nach Amphissa verirrten Thyiaden (mul. virt. 249 E) vor
Augen, der Rapp p. 22 vergeblich thatsächlichen Gehalt abzusprechen
versucht. Anderes ist vorhin gelegentlich berührt.
1) ἣν διὰ μαντοσύνην τήν οἱ πόρε Φοῖβος Ἀπόλλων Il. 1, 72.
2) τὸ ἄτεχνον καὶ ἀδίδακτον (τῆς μαντικῆς) τουτέστιν ἐνύπνια καὶ ἐνϑου-
σιασμοί — [Plut.] de vita et poes. Hom. 2, 212. Homerisch ist nur ἡ τῶν
ἐμφρόνων ζήτησις τοῦ μέλλοντος διά τε ὀρνίϑων ποιουμένη καὶ τῶν ἄλλων
σημείων (Plat. Phaedr. 244 c.).
3) Jener Pseudoplutarch a. a. O. findet freilich in dem seltsamen
(übrigens jedenfalls von später Hand eingelegten) Bericht von Theo-
klymenos’ Verhalten unter den Freiern, Od. 20, 345—357 die Zeichnung
eines ἔνϑεος μάντις, ἔκ τινος ἐπιπνοίας σημαίνων τὰ μέλλοντα, aber in
Wahrheit ist dort von unnatürlicher Erregung nicht des Sehers, sondern viel-
mehr der Freier die Rede. S. Lobeck, Agl. 264. Aus Il. 1, 92 ff. 7, 44—53
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[344/0360] 3. Bei aller Zähmung und Mässigung seines äusseren Ge- bahrens blieb dem dionysischen Culte, als unterster Grund seines Wesens, ein oft drohend oder lockend hervorscheinen- der Zug ins ekstatisch Ueberschwängliche. Und so mächtig war noch bei der Verschmelzung apollinischer und dionysischer Religion, wie sie in Delphi sich vollzog, der ekstatische Trieb in dem dionysischen Wesen, dass von ihm etwas in den, ur- sprünglich aller Ekstase urfremden apollinischen Cult hinüber- floss. Die Begeisterungsmantik, welche durch Steigerung der Seele des Menschen ins Göttliche dieser Kenntniss des Ver- borgenen verleiht, ist nicht von jeher griechischer Religion eigen gewesen. Homer kennt wohl die „kunstmässige“ Weissagung, in der eigens geschulte Seher aus der Deutung frei erschei- nender oder von Menschen absichtlich ins Spiel gebrachter Zeichen den Willen der Götter in der Gegenwart und für die Zukunft zu erforschen wissen. Und dies ist die Art der Weissagung, die Apoll den Sehern verleiht 1). Aber die aus momentaner Begeisterung kommende, „kunstlose und unlehr- bare“ Wahrsagung 2) ist den homerischen Gedichten nicht bekannt 3). Neben den selbständig thätigen zünftigen Wahr- 1) 1) ἣν διὰ μαντοσύνην τήν οἱ πόρε Φοῖβος Ἀπόλλων Il. 1, 72. 2) τὸ ἄτεχνον καὶ ἀδίδακτον (τῆς μαντικῆς) τουτέστιν ἐνύπνια καὶ ἐνϑου- σιασμοί — [Plut.] de vita et poes. Hom. 2, 212. Homerisch ist nur ἡ τῶν ἐμφρόνων ζήτησις τοῦ μέλλοντος διά τε ὀρνίϑων ποιουμένη καὶ τῶν ἄλλων σημείων (Plat. Phaedr. 244 c.). 3) Jener Pseudoplutarch a. a. O. findet freilich in dem seltsamen (übrigens jedenfalls von später Hand eingelegten) Bericht von Theo- klymenos’ Verhalten unter den Freiern, Od. 20, 345—357 die Zeichnung eines ἔνϑεος μάντις, ἔκ τινος ἐπιπνοίας σημαίνων τὰ μέλλοντα, aber in Wahrheit ist dort von unnatürlicher Erregung nicht des Sehers, sondern viel- mehr der Freier die Rede. S. Lobeck, Agl. 264. Aus Il. 1, 92 ff. 7, 44—53 1) greifen konnte, führt in deutlichem Bilde Plutarchs Erzählung von den in ihrer Raserei nach Amphissa verirrten Thyiaden (mul. virt. 249 E) vor Augen, der Rapp p. 22 vergeblich thatsächlichen Gehalt abzusprechen versucht. Anderes ist vorhin gelegentlich berührt.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/360>, abgerufen am 22.12.2024.