Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite




Der sechs und sechzigste Brief
von
Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein
Howe.

Was für Kummer, meine liebste Freundinn,
macht mir Jhre liebreiche Sorge für mei-
ne Wohlfarth! Wie viel stärker und zärtlicher
sind doch die Bande einer reinen Freundschaft,
und die Vereinigung ähnlicher Gemüther, als die
Bande der Natur! Der angenehme Sänger in
Jsrael hatte wohl Ursache zu sagen, wenn er das
Lob der Freundschaft zwischen ihm und seinem
geliebten Freunde aufs höchste treiben wollte, daß
die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar wäre,
daß sie die Liebe der Frauen überträffe! Was
für einen erhabenen Begriff giebt es von der See-
le Jonathans, die zu diesem heiligen Bande so
liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh-
men können, daß seine Freundschaft der Freund-
schaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene
Clarissa gleich gewesen! Aber ob ich mir gleich
einen Ruhm aus Jhrer gütigen Liebe zu mir ma-
chen kann: so denken Sie doch, meine Werthe-
ste, was für einen Kummer ein nicht unedies
Gemüth empfinden müsse; wenn die Verbind-
lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben

zu




Der ſechs und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.

Was fuͤr Kummer, meine liebſte Freundinn,
macht mir Jhre liebreiche Sorge fuͤr mei-
ne Wohlfarth! Wie viel ſtaͤrker und zaͤrtlicher
ſind doch die Bande einer reinen Freundſchaft,
und die Vereinigung aͤhnlicher Gemuͤther, als die
Bande der Natur! Der angenehme Saͤnger in
Jſrael hatte wohl Urſache zu ſagen, wenn er das
Lob der Freundſchaft zwiſchen ihm und ſeinem
geliebten Freunde aufs hoͤchſte treiben wollte, daß
die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar waͤre,
daß ſie die Liebe der Frauen uͤbertraͤffe! Was
fuͤr einen erhabenen Begriff giebt es von der See-
le Jonathans, die zu dieſem heiligen Bande ſo
liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh-
men koͤnnen, daß ſeine Freundſchaft der Freund-
ſchaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene
Clariſſa gleich geweſen! Aber ob ich mir gleich
einen Ruhm aus Jhrer guͤtigen Liebe zu mir ma-
chen kann: ſo denken Sie doch, meine Werthe-
ſte, was fuͤr einen Kummer ein nicht unedies
Gemuͤth empfinden muͤſſe; wenn die Verbind-
lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben

zu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0485" n="479"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#fr">Der &#x017F;echs und &#x017F;echzig&#x017F;te Brief</hi><lb/>
von<lb/><hi rendition="#fr">Fra&#x0364;ulein Clari&#x017F;&#x017F;a Harlowe an Fra&#x0364;ulein<lb/>
Howe.</hi></head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabends, den 23ten Jul.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>as fu&#x0364;r Kummer, meine lieb&#x017F;te Freundinn,<lb/>
macht mir Jhre liebreiche Sorge fu&#x0364;r mei-<lb/>
ne Wohlfarth! Wie viel &#x017F;ta&#x0364;rker und za&#x0364;rtlicher<lb/>
&#x017F;ind doch die Bande einer reinen Freund&#x017F;chaft,<lb/>
und die Vereinigung a&#x0364;hnlicher Gemu&#x0364;ther, als die<lb/>
Bande der Natur! Der angenehme Sa&#x0364;nger in<lb/>
J&#x017F;rael hatte wohl Ur&#x017F;ache zu &#x017F;agen, wenn er das<lb/>
Lob der Freund&#x017F;chaft zwi&#x017F;chen ihm und &#x017F;einem<lb/>
geliebten Freunde aufs ho&#x0364;ch&#x017F;te treiben wollte, daß<lb/>
die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar wa&#x0364;re,<lb/>
daß &#x017F;ie die <hi rendition="#fr">Liebe der Frauen</hi> u&#x0364;bertra&#x0364;ffe! Was<lb/>
fu&#x0364;r einen erhabenen Begriff giebt es von der See-<lb/>
le Jonathans, die zu die&#x017F;em heiligen Bande &#x017F;o<lb/>
liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh-<lb/>
men ko&#x0364;nnen, daß &#x017F;eine Freund&#x017F;chaft der Freund-<lb/>
&#x017F;chaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene<lb/>
Clari&#x017F;&#x017F;a gleich gewe&#x017F;en! Aber ob ich mir gleich<lb/>
einen Ruhm aus Jhrer gu&#x0364;tigen Liebe zu mir ma-<lb/>
chen kann: &#x017F;o denken Sie doch, meine Werthe-<lb/>
&#x017F;te, was fu&#x0364;r einen Kummer ein nicht unedies<lb/>
Gemu&#x0364;th empfinden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e; wenn die Verbind-<lb/>
lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zu</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[479/0485] Der ſechs und ſechzigſte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe. Sonnabends, den 23ten Jul. Was fuͤr Kummer, meine liebſte Freundinn, macht mir Jhre liebreiche Sorge fuͤr mei- ne Wohlfarth! Wie viel ſtaͤrker und zaͤrtlicher ſind doch die Bande einer reinen Freundſchaft, und die Vereinigung aͤhnlicher Gemuͤther, als die Bande der Natur! Der angenehme Saͤnger in Jſrael hatte wohl Urſache zu ſagen, wenn er das Lob der Freundſchaft zwiſchen ihm und ſeinem geliebten Freunde aufs hoͤchſte treiben wollte, daß die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar waͤre, daß ſie die Liebe der Frauen uͤbertraͤffe! Was fuͤr einen erhabenen Begriff giebt es von der See- le Jonathans, die zu dieſem heiligen Bande ſo liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh- men koͤnnen, daß ſeine Freundſchaft der Freund- ſchaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene Clariſſa gleich geweſen! Aber ob ich mir gleich einen Ruhm aus Jhrer guͤtigen Liebe zu mir ma- chen kann: ſo denken Sie doch, meine Werthe- ſte, was fuͤr einen Kummer ein nicht unedies Gemuͤth empfinden muͤſſe; wenn die Verbind- lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/485
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/485>, abgerufen am 21.11.2024.