würden wir uns einander trösten, und die Anklage des Gewissens würde nicht einen Theil allein treffen.
Jn dem was hier ausgelassen ist, bekennet er, daß ihm die Ermahnungen der Clarisse, auf eine angenehme und scharfe Art zu Hertzen gegangen sind: zweiffelt aber an seiner Beständigkeit.
Mein Kind weiß die ernsthaftesten Lehren sehr angenehm vorzutragen: ihre Stimme erhebet sich, und wird recht reitzend, wenn ihr die Materie ge- fällt, davon sie redet. Jch wollte ihr wol einen hal- ben Tag zuhören. Wenn sie aber fällt, so wird sie viel von ihrem Eifer, und von der Zuversicht, die eine Fruchtdes guten Gewissens ist, und dadurch sich die Unschuld so sehr über die Schuldigen erhe- bet, verlieren.
Jch möchte wissen, Belford, warum die Leute dein und meines gleichen Heuchler nennen. Jch hasse den Nahmen, und es sollte mich sehr verdries- sen, wenn er mir gegeben würde. Jch habe so oft gute ja die besten Vorsätze, als sie jemand ha- ben kann: allein sie verfliegen so bald wieder; oder (um es auf eine mir anständigere Art auszudrücken) ich bin sorgloser als andere, meine Sünden-Fälle zu verbergen.
Der sechs und zwantzigste Brief von Fräulein Howe an Fräulein Clarissa Harlowe.
Sonnabends den 15. April.
So wenig ich Zeit habe, und so genau die Auf- sicht meiner Mutter auf mich ist, kann ich
doch
wuͤrden wir uns einander troͤſten, und die Anklage des Gewiſſens wuͤrde nicht einen Theil allein treffen.
Jn dem was hier ausgelaſſen iſt, bekennet er, daß ihm die Ermahnungen der Clariſſe, auf eine angenehme und ſcharfe Art zu Hertzen gegangen ſind: zweiffelt aber an ſeiner Beſtaͤndigkeit.
Mein Kind weiß die ernſthafteſten Lehren ſehr angenehm vorzutragen: ihre Stimme erhebet ſich, und wird recht reitzend, wenn ihr die Materie ge- faͤllt, davon ſie redet. Jch wollte ihr wol einen hal- ben Tag zuhoͤren. Wenn ſie aber faͤllt, ſo wird ſie viel von ihrem Eifer, und von der Zuverſicht, die eine Fruchtdes guten Gewiſſens iſt, und dadurch ſich die Unſchuld ſo ſehr uͤber die Schuldigen erhe- bet, verlieren.
Jch moͤchte wiſſen, Belford, warum die Leute dein und meines gleichen Heuchler nennen. Jch haſſe den Nahmen, und es ſollte mich ſehr verdrieſ- ſen, wenn er mir gegeben wuͤrde. Jch habe ſo oft gute ja die beſten Vorſaͤtze, als ſie jemand ha- ben kann: allein ſie verfliegen ſo bald wieder; oder (um es auf eine mir anſtaͤndigere Art auszudruͤcken) ich bin ſorgloſer als andere, meine Suͤnden-Faͤlle zu verbergen.
Der ſechs und zwantzigſte Brief von Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Sonnabends den 15. April.
So wenig ich Zeit habe, und ſo genau die Auf- ſicht meiner Mutter auf mich iſt, kann ich
doch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0250"n="236"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
wuͤrden wir uns einander troͤſten, und die Anklage<lb/>
des Gewiſſens wuͤrde nicht einen Theil allein treffen.</p><lb/><p><hirendition="#et">Jn dem was hier ausgelaſſen iſt, bekennet er, daß ihm die<lb/>
Ermahnungen der Clariſſe, auf eine angenehme und ſcharfe Art<lb/>
zu Hertzen gegangen ſind: zweiffelt aber an ſeiner Beſtaͤndigkeit.</hi></p><lb/><p>Mein Kind weiß die ernſthafteſten Lehren ſehr<lb/>
angenehm vorzutragen: ihre Stimme erhebet ſich,<lb/>
und wird recht reitzend, wenn ihr die Materie ge-<lb/>
faͤllt, davon ſie redet. Jch wollte ihr wol einen hal-<lb/>
ben Tag zuhoͤren. Wenn ſie aber faͤllt, ſo wird ſie<lb/>
viel von ihrem Eifer, und von der Zuverſicht, die<lb/>
eine Fruchtdes guten Gewiſſens iſt, und dadurch<lb/>ſich die Unſchuld ſo ſehr uͤber die Schuldigen erhe-<lb/>
bet, verlieren.</p><lb/><p>Jch moͤchte wiſſen, <hirendition="#fr">Belford,</hi> warum die Leute<lb/>
dein und meines gleichen Heuchler nennen. Jch<lb/>
haſſe den Nahmen, und es ſollte mich ſehr verdrieſ-<lb/>ſen, wenn er mir gegeben wuͤrde. Jch habe ſo<lb/>
oft gute ja die beſten Vorſaͤtze, als ſie jemand ha-<lb/>
ben kann: allein ſie verfliegen ſo bald wieder; oder<lb/>
(um es auf eine mir anſtaͤndigere Art auszudruͤcken)<lb/>
ich bin ſorgloſer als andere, meine Suͤnden-Faͤlle zu<lb/>
verbergen.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#fr">Der ſechs und zwantzigſte Brief</hi><lb/>
von<lb/><hirendition="#fr">Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa<lb/>
Harlowe.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#et">Sonnabends den 15. April.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#in">S</hi>o wenig ich Zeit habe, und ſo genau die Auf-<lb/>ſicht meiner Mutter auf mich iſt, kann ich<lb/><fwplace="bottom"type="catch">doch</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[236/0250]
wuͤrden wir uns einander troͤſten, und die Anklage
des Gewiſſens wuͤrde nicht einen Theil allein treffen.
Jn dem was hier ausgelaſſen iſt, bekennet er, daß ihm die
Ermahnungen der Clariſſe, auf eine angenehme und ſcharfe Art
zu Hertzen gegangen ſind: zweiffelt aber an ſeiner Beſtaͤndigkeit.
Mein Kind weiß die ernſthafteſten Lehren ſehr
angenehm vorzutragen: ihre Stimme erhebet ſich,
und wird recht reitzend, wenn ihr die Materie ge-
faͤllt, davon ſie redet. Jch wollte ihr wol einen hal-
ben Tag zuhoͤren. Wenn ſie aber faͤllt, ſo wird ſie
viel von ihrem Eifer, und von der Zuverſicht, die
eine Fruchtdes guten Gewiſſens iſt, und dadurch
ſich die Unſchuld ſo ſehr uͤber die Schuldigen erhe-
bet, verlieren.
Jch moͤchte wiſſen, Belford, warum die Leute
dein und meines gleichen Heuchler nennen. Jch
haſſe den Nahmen, und es ſollte mich ſehr verdrieſ-
ſen, wenn er mir gegeben wuͤrde. Jch habe ſo
oft gute ja die beſten Vorſaͤtze, als ſie jemand ha-
ben kann: allein ſie verfliegen ſo bald wieder; oder
(um es auf eine mir anſtaͤndigere Art auszudruͤcken)
ich bin ſorgloſer als andere, meine Suͤnden-Faͤlle zu
verbergen.
Der ſechs und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Sonnabends den 15. April.
So wenig ich Zeit habe, und ſo genau die Auf-
ſicht meiner Mutter auf mich iſt, kann ich
doch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/250>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.