Der zwanzigste Brief von Fräulein Howe an Fräulein Clarissa Harlowe.
Donnerstag Morgens, bey Anbruch des Tages den 30 März.
Ein blosser Zufall hat meine Trägheit veran- lasset: denn mit diesem Nahmen werden Sie den Aufschub meiner Antwort so lange mit Recht belegen, bis ich Jhnen die wahre Ursache gemeldet haben werde.
Des Sonntags Abends ward meine Mutter in grössester Eil zu der Frau Larckin gebeten. Die Ursache habe ich Jhnen schon sonst gemeldet. Die arme Frau hat sich immer vor dem Tode gefürchtet, und sie steckte mit andern in dem A- berglauben, daß das Testament der Vorbote des Todes sey. So oft sie ersucht ward, diese höchst- nöthige Arbeit nicht zu lange aufzuschieben, sagte sie: sie würde nicht lange mehr leben, wenn sie erst ein Testament gemacht hätte. Man sollte beynahe glauben, daß sie ihr Wort hätte halten wollen: denn ob sie gleich lange bettlägrig ge- wesen war, und schon mit einem Fusse im Gra- be stand, so meinte sie doch, sie fände sich in der Besserung, bis sie das Testament gemacht hatte. Allein von dem Augenblick an, ward sie schlim- mer, weil sie sich ihrer Weissagung erinnerte: ihre Furcht machte, daß sie Ursache bekam sich
zu
Die Geſchichte
Der zwanzigſte Brief von Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Donnerſtag Morgens, bey Anbruch des Tages den 30 Maͤrz.
Ein bloſſer Zufall hat meine Traͤgheit veran- laſſet: denn mit dieſem Nahmen werden Sie den Aufſchub meiner Antwort ſo lange mit Recht belegen, bis ich Jhnen die wahre Urſache gemeldet haben werde.
Des Sonntags Abends ward meine Mutter in groͤſſeſter Eil zu der Frau Larckin gebeten. Die Urſache habe ich Jhnen ſchon ſonſt gemeldet. Die arme Frau hat ſich immer vor dem Tode gefuͤrchtet, und ſie ſteckte mit andern in dem A- berglauben, daß das Teſtament der Vorbote des Todes ſey. So oft ſie erſucht ward, dieſe hoͤchſt- noͤthige Arbeit nicht zu lange aufzuſchieben, ſagte ſie: ſie wuͤrde nicht lange mehr leben, wenn ſie erſt ein Teſtament gemacht haͤtte. Man ſollte beynahe glauben, daß ſie ihr Wort haͤtte halten wollen: denn ob ſie gleich lange bettlaͤgrig ge- weſen war, und ſchon mit einem Fuſſe im Gra- be ſtand, ſo meinte ſie doch, ſie faͤnde ſich in der Beſſerung, bis ſie das Teſtament gemacht hatte. Allein von dem Augenblick an, ward ſie ſchlim- mer, weil ſie ſich ihrer Weiſſagung erinnerte: ihre Furcht machte, daß ſie Urſache bekam ſich
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Die Geſchichte
Der zwanzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Donnerſtag Morgens, bey Anbruch des
Tages den 30 Maͤrz.
Ein bloſſer Zufall hat meine Traͤgheit veran-
laſſet: denn mit dieſem Nahmen werden
Sie den Aufſchub meiner Antwort ſo lange mit
Recht belegen, bis ich Jhnen die wahre Urſache
gemeldet haben werde.
Des Sonntags Abends ward meine Mutter
in groͤſſeſter Eil zu der Frau Larckin gebeten.
Die Urſache habe ich Jhnen ſchon ſonſt gemeldet.
Die arme Frau hat ſich immer vor dem Tode
gefuͤrchtet, und ſie ſteckte mit andern in dem A-
berglauben, daß das Teſtament der Vorbote des
Todes ſey. So oft ſie erſucht ward, dieſe hoͤchſt-
noͤthige Arbeit nicht zu lange aufzuſchieben, ſagte
ſie: ſie wuͤrde nicht lange mehr leben, wenn ſie
erſt ein Teſtament gemacht haͤtte. Man ſollte
beynahe glauben, daß ſie ihr Wort haͤtte halten
wollen: denn ob ſie gleich lange bettlaͤgrig ge-
weſen war, und ſchon mit einem Fuſſe im Gra-
be ſtand, ſo meinte ſie doch, ſie faͤnde ſich in der
Beſſerung, bis ſie das Teſtament gemacht hatte.
Allein von dem Augenblick an, ward ſie ſchlim-
mer, weil ſie ſich ihrer Weiſſagung erinnerte:
ihre Furcht machte, daß ſie Urſache bekam ſich
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/214>, abgerufen am 03.12.2024.
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