Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geschichte
Der achtzehende Brief.
von
Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein
Howe.

Jch habe Jhnen einige mahl geschrieben, daß
Elisabetb sehr dreiste und naseweiß sey.
Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, so will ich Jh-
nen eine Probe davon geben, und eine Unterre-
dung, die wir eben mit einander gehabt haben,
aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er-
leichterung, da ich Sie sonst immer mit so un-
angenehmen Nachrichten ermüde.

Als sie mir bey Tische aufwartete, merckte sie
an, daß die Natur mit wenigem zufrieden sey.
Sie wollte einmahl ein höfliches Wort sagen,
und setzte deshalb als einen Beweis hinzu:
Denn/ Fräulein/ sie essen jetzt fast nichts/
und haben doch in ihrem Leben nie char-
manter ausgesehen.

Jch antwortete: "Eur erster Satz ist rich-
"tig, Elisabeth: und wenn ich bisweilen gesehen
"habe, wie gesund die Kinder der armen Tage-
"löhner aussehen und auch in der That sind, ob-
"gleich ihr Magen leer ist, und sie sich kaum ein-
"mahl in der Woche satt essen können, so habe
"ich oft bedacht, daß die Vorsicht sehr gütig ge-
"gen die Geschöpfe gewesen sey, da sie eine sol-

"che
Die Geſchichte
Der achtzehende Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.

Jch habe Jhnen einige mahl geſchrieben, daß
Eliſabetb ſehr dreiſte und naſeweiß ſey.
Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, ſo will ich Jh-
nen eine Probe davon geben, und eine Unterre-
dung, die wir eben mit einander gehabt haben,
aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er-
leichterung, da ich Sie ſonſt immer mit ſo un-
angenehmen Nachrichten ermuͤde.

Als ſie mir bey Tiſche aufwartete, merckte ſie
an, daß die Natur mit wenigem zufrieden ſey.
Sie wollte einmahl ein hoͤfliches Wort ſagen,
und ſetzte deshalb als einen Beweis hinzu:
Denn/ Fraͤulein/ ſie eſſen jetzt faſt nichts/
und haben doch in ihrem Leben nie char-
manter ausgeſehen.

Jch antwortete: „Eur erſter Satz iſt rich-
„tig, Eliſabeth: und wenn ich bisweilen geſehen
„habe, wie geſund die Kinder der armen Tage-
„loͤhner ausſehen und auch in der That ſind, ob-
„gleich ihr Magen leer iſt, und ſie ſich kaum ein-
„mahl in der Woche ſatt eſſen koͤnnen, ſo habe
„ich oft bedacht, daß die Vorſicht ſehr guͤtig ge-
„gen die Geſchoͤpfe geweſen ſey, da ſie eine ſol-

„che
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0184" n="178"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi> </hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#fr">Der achtzehende Brief.</hi><lb/>
von<lb/><hi rendition="#fr">Fra&#x0364;ulein Clari&#x017F;&#x017F;a Harlowe an Fra&#x0364;ulein<lb/>
Howe.</hi></head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Donner&#x017F;tag den 28. Ma&#x0364;rz<lb/>
um 3. Uhr.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ch habe Jhnen einige mahl ge&#x017F;chrieben, daß<lb/><hi rendition="#fr">Eli&#x017F;abetb</hi> &#x017F;ehr drei&#x017F;te und na&#x017F;eweiß &#x017F;ey.<lb/>
Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, &#x017F;o will ich Jh-<lb/>
nen eine Probe davon geben, und eine Unterre-<lb/>
dung, die wir eben mit einander gehabt haben,<lb/>
aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er-<lb/>
leichterung, da ich Sie &#x017F;on&#x017F;t immer mit &#x017F;o un-<lb/>
angenehmen Nachrichten ermu&#x0364;de.</p><lb/>
          <p>Als &#x017F;ie mir bey Ti&#x017F;che aufwartete, merckte &#x017F;ie<lb/>
an, daß die Natur mit wenigem zufrieden &#x017F;ey.<lb/>
Sie wollte einmahl ein ho&#x0364;fliches Wort &#x017F;agen,<lb/>
und &#x017F;etzte deshalb als einen Beweis hinzu:<lb/><hi rendition="#fr">Denn/ Fra&#x0364;ulein/ &#x017F;ie e&#x017F;&#x017F;en jetzt fa&#x017F;t nichts/<lb/>
und haben doch in ihrem Leben nie char-<lb/>
manter ausge&#x017F;ehen.</hi></p><lb/>
          <p>Jch antwortete: &#x201E;Eur er&#x017F;ter Satz i&#x017F;t rich-<lb/>
&#x201E;tig, Eli&#x017F;abeth: und wenn ich bisweilen ge&#x017F;ehen<lb/>
&#x201E;habe, wie ge&#x017F;und die Kinder der armen Tage-<lb/>
&#x201E;lo&#x0364;hner aus&#x017F;ehen und auch in der That &#x017F;ind, ob-<lb/>
&#x201E;gleich ihr Magen leer i&#x017F;t, und &#x017F;ie &#x017F;ich kaum ein-<lb/>
&#x201E;mahl in der Woche &#x017F;att e&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen, &#x017F;o habe<lb/>
&#x201E;ich oft bedacht, daß die Vor&#x017F;icht &#x017F;ehr gu&#x0364;tig ge-<lb/>
&#x201E;gen die Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe gewe&#x017F;en &#x017F;ey, da &#x017F;ie eine &#x017F;ol-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;che</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0184] Die Geſchichte Der achtzehende Brief. von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe. Donnerſtag den 28. Maͤrz um 3. Uhr. Jch habe Jhnen einige mahl geſchrieben, daß Eliſabetb ſehr dreiſte und naſeweiß ſey. Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, ſo will ich Jh- nen eine Probe davon geben, und eine Unterre- dung, die wir eben mit einander gehabt haben, aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er- leichterung, da ich Sie ſonſt immer mit ſo un- angenehmen Nachrichten ermuͤde. Als ſie mir bey Tiſche aufwartete, merckte ſie an, daß die Natur mit wenigem zufrieden ſey. Sie wollte einmahl ein hoͤfliches Wort ſagen, und ſetzte deshalb als einen Beweis hinzu: Denn/ Fraͤulein/ ſie eſſen jetzt faſt nichts/ und haben doch in ihrem Leben nie char- manter ausgeſehen. Jch antwortete: „Eur erſter Satz iſt rich- „tig, Eliſabeth: und wenn ich bisweilen geſehen „habe, wie geſund die Kinder der armen Tage- „loͤhner ausſehen und auch in der That ſind, ob- „gleich ihr Magen leer iſt, und ſie ſich kaum ein- „mahl in der Woche ſatt eſſen koͤnnen, ſo habe „ich oft bedacht, daß die Vorſicht ſehr guͤtig ge- „gen die Geſchoͤpfe geweſen ſey, da ſie eine ſol- „che

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/184
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/184>, abgerufen am 21.12.2024.