Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geschichte
Der acht und dreyssigste Brief
von
Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein
Howe.

Jhr letzter Brief rührt mich so sehr, daß ich
alles andere hinten ansetzen muß, um ihn
zu beantworten. Es soll dieses Stück vor Stück
und mit aller der Offenhertzigkeit geschehen, die
unsere Freundschaft erfodert.

Jch muß danckbahr erkennen, daß Sie mit mir
so grosmüthig umgegangen sind, als es Jhre Na-
tur mit sich bringt, wenn Sie bey funfzig Stellen,
in denen ich unleugbare Proben meiner Hochach-
tung gegen Herrn Lovelace gegeben habe, mei-
ner blos deswegen geschonet haben, weil ich offen-
hertzig gewesen bin.

Was meinen Sie aber: sollte wol ein Mensch
auf der Welt so lasterhaft seyn, mit dem ein zwei-
felhaftes Gemüth nicht einmahl besser als das an-
dere mahl zu Frieden seyn müßte? Und ist es nicht
billig, daß man sich um solche Zeit seinen Einsich-
ten gemäß ausdrückt? Jch muß doch dem, der sich
um mich bewirbt, eben die Gerechtigkeit widerfah-
ren lassen, die ich dem schuldig bin, der sich nicht um
mich bekümmert. Mir kommt es so tyrannisch, so
niederträchtig vor, einem der sonst keine Geringschä-
tzung verdient deswegen schlimmer zu begegnen,
weil er uns hoch schätzt, daß ich nicht Lust habe, mich
durch eine solche Aufführung herunter zu setzen.

Ob
Die Geſchichte
Der acht und dreysſigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.

Jhr letzter Brief ruͤhrt mich ſo ſehr, daß ich
alles andere hinten anſetzen muß, um ihn
zu beantworten. Es ſoll dieſes Stuͤck vor Stuͤck
und mit aller der Offenhertzigkeit geſchehen, die
unſere Freundſchaft erfodert.

Jch muß danckbahr erkennen, daß Sie mit mir
ſo grosmuͤthig umgegangen ſind, als es Jhre Na-
tur mit ſich bringt, wenn Sie bey funfzig Stellen,
in denen ich unleugbare Proben meiner Hochach-
tung gegen Herrn Lovelace gegeben habe, mei-
ner blos deswegen geſchonet haben, weil ich offen-
hertzig geweſen bin.

Was meinen Sie aber: ſollte wol ein Menſch
auf der Welt ſo laſterhaft ſeyn, mit dem ein zwei-
felhaftes Gemuͤth nicht einmahl beſſer als das an-
dere mahl zu Frieden ſeyn muͤßte? Und iſt es nicht
billig, daß man ſich um ſolche Zeit ſeinen Einſich-
ten gemaͤß ausdruͤckt? Jch muß doch dem, der ſich
um mich bewirbt, eben die Gerechtigkeit widerfah-
ren laſſen, die ich dem ſchuldig bin, der ſich nicht um
mich bekuͤmmert. Mir kommt es ſo tyranniſch, ſo
niedertraͤchtig vor, einem der ſonſt keine Geringſchaͤ-
tzung verdient deswegen ſchlimmer zu begegnen,
weil er uns hoch ſchaͤtzt, daß ich nicht Luſt habe, mich
durch eine ſolche Auffuͤhrung herunter zu ſetzen.

Ob
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0448" n="428"/>
      <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi> </hi> </fw><lb/>
      <div n="2">
        <head><hi rendition="#fr">Der acht und dreys&#x017F;ig&#x017F;te Brief</hi><lb/>
von<lb/><hi rendition="#fr">Fra&#x0364;ulein Clari&#x017F;&#x017F;a Harlowe an Fra&#x0364;ulein<lb/>
Howe.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#et">Montags den 20&#x017F;ten Ma&#x0364;rtz.</hi> </dateline><lb/>
        <p><hi rendition="#in">J</hi>hr letzter Brief ru&#x0364;hrt mich &#x017F;o &#x017F;ehr, daß ich<lb/>
alles andere hinten an&#x017F;etzen muß, um ihn<lb/>
zu beantworten. Es &#x017F;oll die&#x017F;es Stu&#x0364;ck vor Stu&#x0364;ck<lb/>
und mit aller der Offenhertzigkeit ge&#x017F;chehen, die<lb/>
un&#x017F;ere Freund&#x017F;chaft erfodert.</p><lb/>
        <p>Jch muß danckbahr erkennen, daß Sie mit mir<lb/>
&#x017F;o grosmu&#x0364;thig umgegangen &#x017F;ind, als es Jhre Na-<lb/>
tur mit &#x017F;ich bringt, wenn Sie bey funfzig Stellen,<lb/>
in denen ich unleugbare Proben meiner Hochach-<lb/>
tung gegen Herrn <hi rendition="#fr">Lovelace</hi> gegeben habe, mei-<lb/>
ner blos deswegen ge&#x017F;chonet haben, weil ich offen-<lb/>
hertzig gewe&#x017F;en bin.</p><lb/>
        <p>Was meinen Sie aber: &#x017F;ollte wol ein Men&#x017F;ch<lb/>
auf der Welt &#x017F;o la&#x017F;terhaft &#x017F;eyn, mit dem ein zwei-<lb/>
felhaftes Gemu&#x0364;th nicht einmahl be&#x017F;&#x017F;er als das an-<lb/>
dere mahl zu Frieden &#x017F;eyn mu&#x0364;ßte? Und i&#x017F;t es nicht<lb/>
billig, daß man &#x017F;ich um &#x017F;olche Zeit &#x017F;einen Ein&#x017F;ich-<lb/>
ten gema&#x0364;ß ausdru&#x0364;ckt? Jch muß doch dem, der &#x017F;ich<lb/>
um mich bewirbt, eben die Gerechtigkeit widerfah-<lb/>
ren la&#x017F;&#x017F;en, die ich dem &#x017F;chuldig bin, der &#x017F;ich nicht um<lb/>
mich beku&#x0364;mmert. Mir kommt es &#x017F;o tyranni&#x017F;ch, &#x017F;o<lb/>
niedertra&#x0364;chtig vor, einem der &#x017F;on&#x017F;t keine Gering&#x017F;cha&#x0364;-<lb/>
tzung verdient deswegen &#x017F;chlimmer zu begegnen,<lb/>
weil er uns hoch &#x017F;cha&#x0364;tzt, daß ich nicht Lu&#x017F;t habe, mich<lb/>
durch eine &#x017F;olche Auffu&#x0364;hrung herunter zu &#x017F;etzen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Ob</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[428/0448] Die Geſchichte Der acht und dreysſigſte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe. Montags den 20ſten Maͤrtz. Jhr letzter Brief ruͤhrt mich ſo ſehr, daß ich alles andere hinten anſetzen muß, um ihn zu beantworten. Es ſoll dieſes Stuͤck vor Stuͤck und mit aller der Offenhertzigkeit geſchehen, die unſere Freundſchaft erfodert. Jch muß danckbahr erkennen, daß Sie mit mir ſo grosmuͤthig umgegangen ſind, als es Jhre Na- tur mit ſich bringt, wenn Sie bey funfzig Stellen, in denen ich unleugbare Proben meiner Hochach- tung gegen Herrn Lovelace gegeben habe, mei- ner blos deswegen geſchonet haben, weil ich offen- hertzig geweſen bin. Was meinen Sie aber: ſollte wol ein Menſch auf der Welt ſo laſterhaft ſeyn, mit dem ein zwei- felhaftes Gemuͤth nicht einmahl beſſer als das an- dere mahl zu Frieden ſeyn muͤßte? Und iſt es nicht billig, daß man ſich um ſolche Zeit ſeinen Einſich- ten gemaͤß ausdruͤckt? Jch muß doch dem, der ſich um mich bewirbt, eben die Gerechtigkeit widerfah- ren laſſen, die ich dem ſchuldig bin, der ſich nicht um mich bekuͤmmert. Mir kommt es ſo tyranniſch, ſo niedertraͤchtig vor, einem der ſonſt keine Geringſchaͤ- tzung verdient deswegen ſchlimmer zu begegnen, weil er uns hoch ſchaͤtzt, daß ich nicht Luſt habe, mich durch eine ſolche Auffuͤhrung herunter zu ſetzen. Ob

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/448
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/448>, abgerufen am 21.11.2024.