6. Religiöse Zustände. Der Shintoismus oder Kamidienst. Die Lehre des Confucius. Buddhismus. Christenthum.
Es gibt keine Seite in den mannigfaltigen Erscheinungen des japanischen Volkslebens, die unserem Verständniss so fern liegt, als diejenige, welche sich auf religiöse Dinge bezieht. Wir sehen, wie verschiedenartig das religiöse Bedürfniss sich äussert in den Tempeln und Götzenbildern, in den Opfern, Ceremonieen und Aufzügen, in Gebet und Ermahnung, und es verlangt uns alsbald nach einer Er- klärung alles dessen, was wir sehen und hören. Aber ob wir uns dann mit unseren Fragen an einen japanischen Gelehrten, Dolmetsch oder Priester wenden, ob wir uns in unserer europäischen Literatur, oder -- falls wir der Sprache mächtig sind -- nach einem einhei- mischen Werke umsehen: wir finden unsere Hoffnung getäuscht und unsere Wissbegierde durch das, was wir hören und lesen, nur theil- weise befriedigt. Eine kaum begreifliche Indolenz und Ignoranz auf der einen Seite, eine schwer verständliche mystische Darstellung auf der anderen Seite gestatten uns kaum, den Schleier zu lüften, der über so Vielem hier liegt. Nur wer Zeit und Mittel besitzt, tief zu graben, wer kritischen Verstandes zurückgreifen und sich vertiefen kann in die alten geschriebenen Ueberlieferungen, vermag die Schätze zu heben, die für uns Europäer hier noch verborgen liegen unter der Schlacke und anderen fremden Zuthaten, welche sich im Laufe vieler Jahrhunderte darüber angesammelt haben. Den Anfang hierzu haben bezüglich des Shinto Mehrere, insbesondere Satow und Kemper- mann, mit Erfolg gemacht.
Zwei heidnische Culte sind es, die in Japan zur Herrschaft ge- langt sind und neben einander, obgleich sich gegenseitig beeinflussend, in eigenthümlicher Weise sich ausgebildet haben, zwei Religionen, denen viele Hunderte von Tempeln und Tausende von Priestern dienen, nämlich der Shintoismus und der Buddhismus.
Die Vorfahren des japanischen Volkes besassen bereits, als sie im heutigen Idzumi, Iwami, Satsuma, Hiuga und anderen Provinzen des Südens landeten, eine gewisse Civilisation; denn sie kannten und pflegten den Ackerbau und hatten sich in religiöser Hinsicht vom Naturdienste zu einem Ahnencultus erhoben, der sich bis auf unsere Zeit unter dem Namen Shintoismus erhalten hat. Die Deification der Vorfahren findet sich mehr oder minder ausgebildet auch bei den Chinesen und anderen Völkern Ostasiens und entstammt wahrschein-
Rein, Japan I. 33
6. Religiöse Zustände.
6. Religiöse Zustände. Der Shintôismus oder Kamidienst. Die Lehre des Confucius. Buddhismus. Christenthum.
Es gibt keine Seite in den mannigfaltigen Erscheinungen des japanischen Volkslebens, die unserem Verständniss so fern liegt, als diejenige, welche sich auf religiöse Dinge bezieht. Wir sehen, wie verschiedenartig das religiöse Bedürfniss sich äussert in den Tempeln und Götzenbildern, in den Opfern, Ceremonieen und Aufzügen, in Gebet und Ermahnung, und es verlangt uns alsbald nach einer Er- klärung alles dessen, was wir sehen und hören. Aber ob wir uns dann mit unseren Fragen an einen japanischen Gelehrten, Dolmetsch oder Priester wenden, ob wir uns in unserer europäischen Literatur, oder — falls wir der Sprache mächtig sind — nach einem einhei- mischen Werke umsehen: wir finden unsere Hoffnung getäuscht und unsere Wissbegierde durch das, was wir hören und lesen, nur theil- weise befriedigt. Eine kaum begreifliche Indolenz und Ignoranz auf der einen Seite, eine schwer verständliche mystische Darstellung auf der anderen Seite gestatten uns kaum, den Schleier zu lüften, der über so Vielem hier liegt. Nur wer Zeit und Mittel besitzt, tief zu graben, wer kritischen Verstandes zurückgreifen und sich vertiefen kann in die alten geschriebenen Ueberlieferungen, vermag die Schätze zu heben, die für uns Europäer hier noch verborgen liegen unter der Schlacke und anderen fremden Zuthaten, welche sich im Laufe vieler Jahrhunderte darüber angesammelt haben. Den Anfang hierzu haben bezüglich des Shintô Mehrere, insbesondere Satow und Kemper- mann, mit Erfolg gemacht.
Zwei heidnische Culte sind es, die in Japan zur Herrschaft ge- langt sind und neben einander, obgleich sich gegenseitig beeinflussend, in eigenthümlicher Weise sich ausgebildet haben, zwei Religionen, denen viele Hunderte von Tempeln und Tausende von Priestern dienen, nämlich der Shintôismus und der Buddhismus.
Die Vorfahren des japanischen Volkes besassen bereits, als sie im heutigen Idzumi, Iwami, Satsuma, Hiuga und anderen Provinzen des Südens landeten, eine gewisse Civilisation; denn sie kannten und pflegten den Ackerbau und hatten sich in religiöser Hinsicht vom Naturdienste zu einem Ahnencultus erhoben, der sich bis auf unsere Zeit unter dem Namen Shintôismus erhalten hat. Die Deïfication der Vorfahren findet sich mehr oder minder ausgebildet auch bei den Chinesen und anderen Völkern Ostasiens und entstammt wahrschein-
Rein, Japan I. 33
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6. Religiöse Zustände.
6. Religiöse Zustände.
Der Shintôismus oder Kamidienst. Die Lehre des
Confucius. Buddhismus. Christenthum.
Es gibt keine Seite in den mannigfaltigen Erscheinungen des
japanischen Volkslebens, die unserem Verständniss so fern liegt, als
diejenige, welche sich auf religiöse Dinge bezieht. Wir sehen, wie
verschiedenartig das religiöse Bedürfniss sich äussert in den Tempeln
und Götzenbildern, in den Opfern, Ceremonieen und Aufzügen, in
Gebet und Ermahnung, und es verlangt uns alsbald nach einer Er-
klärung alles dessen, was wir sehen und hören. Aber ob wir uns
dann mit unseren Fragen an einen japanischen Gelehrten, Dolmetsch
oder Priester wenden, ob wir uns in unserer europäischen Literatur,
oder — falls wir der Sprache mächtig sind — nach einem einhei-
mischen Werke umsehen: wir finden unsere Hoffnung getäuscht und
unsere Wissbegierde durch das, was wir hören und lesen, nur theil-
weise befriedigt. Eine kaum begreifliche Indolenz und Ignoranz auf
der einen Seite, eine schwer verständliche mystische Darstellung auf
der anderen Seite gestatten uns kaum, den Schleier zu lüften, der
über so Vielem hier liegt. Nur wer Zeit und Mittel besitzt, tief zu
graben, wer kritischen Verstandes zurückgreifen und sich vertiefen
kann in die alten geschriebenen Ueberlieferungen, vermag die Schätze
zu heben, die für uns Europäer hier noch verborgen liegen unter der
Schlacke und anderen fremden Zuthaten, welche sich im Laufe vieler
Jahrhunderte darüber angesammelt haben. Den Anfang hierzu haben
bezüglich des Shintô Mehrere, insbesondere Satow und Kemper-
mann, mit Erfolg gemacht.
Zwei heidnische Culte sind es, die in Japan zur Herrschaft ge-
langt sind und neben einander, obgleich sich gegenseitig beeinflussend,
in eigenthümlicher Weise sich ausgebildet haben, zwei Religionen,
denen viele Hunderte von Tempeln und Tausende von Priestern dienen,
nämlich der Shintôismus und der Buddhismus.
Die Vorfahren des japanischen Volkes besassen bereits, als sie
im heutigen Idzumi, Iwami, Satsuma, Hiuga und anderen Provinzen
des Südens landeten, eine gewisse Civilisation; denn sie kannten und
pflegten den Ackerbau und hatten sich in religiöser Hinsicht vom
Naturdienste zu einem Ahnencultus erhoben, der sich bis auf unsere
Zeit unter dem Namen Shintôismus erhalten hat. Die Deïfication der
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/547>, abgerufen am 23.11.2024.
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