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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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dorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter
geschrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen.
Wie sehr erwachsene, verständige, vernünftige Leute
wir draußen in den Gassen der Reichshauptstadt
sein mochten, in Leonie des Beaux' Reiche waren
wir noch dergestalt unmündig Volk, daß wir die
höchsten Ehrenstellen und Sitze im Kinderhimmel des
Evangeliums hätten in Anspruch nehmen dürfen.
Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns
im Gegentheil für außerordentlich weltklug. Fräulein
Leonie vielleicht ausgenommen.

Die achtete mit immer größeren, schärferen und
-- ängstlicheren Augen auf den neuen Freund ihres
Bruders, auf den närrischen Velten Andres. Daß
es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich
nicht sagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen,
daß das Meiste aus dieser Vergangenheit mir selber
erst klar und deutlich wird und einen logischen
Zusammenhang gewinnt, wie ich diese Blätter be¬
schreibe und -- paginire.

Ob er, der Junge aus dem Vogelsang, je in
seinem Leben einen Begriff davon bekommen hat,
was diese großen, anfangs so freudigen, dann mehr
und mehr ernsten, traurigen Augen für ihn bedeuteten,
weiß ich nicht. Wie viele treu besorgte Blicke aus
lieben Augen gehen Einem verloren, während man auf

dorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter
geſchrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen.
Wie ſehr erwachſene, verſtändige, vernünftige Leute
wir draußen in den Gaſſen der Reichshauptſtadt
ſein mochten, in Leonie des Beaux' Reiche waren
wir noch dergeſtalt unmündig Volk, daß wir die
höchſten Ehrenſtellen und Sitze im Kinderhimmel des
Evangeliums hätten in Anſpruch nehmen dürfen.
Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns
im Gegentheil für außerordentlich weltklug. Fräulein
Leonie vielleicht ausgenommen.

Die achtete mit immer größeren, ſchärferen und
— ängſtlicheren Augen auf den neuen Freund ihres
Bruders, auf den närriſchen Velten Andres. Daß
es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich
nicht ſagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen,
daß das Meiſte aus dieſer Vergangenheit mir ſelber
erſt klar und deutlich wird und einen logiſchen
Zuſammenhang gewinnt, wie ich dieſe Blätter be¬
ſchreibe und — paginire.

Ob er, der Junge aus dem Vogelſang, je in
ſeinem Leben einen Begriff davon bekommen hat,
was dieſe großen, anfangs ſo freudigen, dann mehr
und mehr ernſten, traurigen Augen für ihn bedeuteten,
weiß ich nicht. Wie viele treu beſorgte Blicke aus
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[130/0140] dorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter geſchrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen. Wie ſehr erwachſene, verſtändige, vernünftige Leute wir draußen in den Gaſſen der Reichshauptſtadt ſein mochten, in Leonie des Beaux' Reiche waren wir noch dergeſtalt unmündig Volk, daß wir die höchſten Ehrenſtellen und Sitze im Kinderhimmel des Evangeliums hätten in Anſpruch nehmen dürfen. Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns im Gegentheil für außerordentlich weltklug. Fräulein Leonie vielleicht ausgenommen. Die achtete mit immer größeren, ſchärferen und — ängſtlicheren Augen auf den neuen Freund ihres Bruders, auf den närriſchen Velten Andres. Daß es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich nicht ſagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen, daß das Meiſte aus dieſer Vergangenheit mir ſelber erſt klar und deutlich wird und einen logiſchen Zuſammenhang gewinnt, wie ich dieſe Blätter be¬ ſchreibe und — paginire. Ob er, der Junge aus dem Vogelſang, je in ſeinem Leben einen Begriff davon bekommen hat, was dieſe großen, anfangs ſo freudigen, dann mehr und mehr ernſten, traurigen Augen für ihn bedeuteten, weiß ich nicht. Wie viele treu beſorgte Blicke aus lieben Augen gehen Einem verloren, während man auf

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/140>, abgerufen am 26.04.2024.