Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite

mehrere Freyheit hat, gewiß noch weniger zu thun vermögend seyn. Wer aber ungeachtet einiges Zwanges schon zu rühren weis, von dem kann man sich, wenn er völlige Freyheit hat, noch viel ein Mehreres versprechen. Würde also wohl die schlechte Ausführung der Kirchenmusiken, an vielen Orten, ein hinreichender Bewegungsgrund seyn können, so gleich alle Kirchenmusiken als etwas ungefälliges zu verwerfen?

23. §.

Die theatralische Musik besteht entweder aus Opern, oder Pastoralen, (Schäferspielen,) oder Zwischenspielen, (Intermezzen.) Die Opern sind entweder wirkliche Trauerspiele, oder Trauerspiele mit einem frölichen Ende, welche den Tragikomödien ähnlich sind. Ob wohl eine jede Gattung der theatralischen Stücke ihre eigene und besondere Schreibart erfodert: so bedienen sich doch die Componisten mehrentheils, um ihren Einfällen völlig den Zügel zu lassen, hierinn vieler Freyheit; welche sie aber dessen ungeachtet nicht von den Pflichten, sich sowohl an die Worte, als an die Eigenschaften und den Zusammenhang der Sache zu binden, frey sprechen kann.

24. §.

Wer die Musik einer Oper gründlich beurtheilen will, muß untersuchen: ob die Sinfonie entweder mit dem Inhalte des ganzen Stückes, oder mit dem ersten Acte, oder zum wenigsten mit der ersten Scene einen Verhalt habe, und die Zuhörer in den Affect, welchen die erste Handlung in sich hat, er sey zärtlich, oder traurig, oder lustig, oder heroisch, oder wütend, u. d. m. zu versetzen vermögend sey(*) s. hiervon mit Mehrerm den 43. §. dieses Hauptstücks. Es ist zu beobachten: ob das Recitativ natürlich, sprechend, ausdrückend, und für die Sänger weder zu tief, noch zu hoch gesetzet sey; ob die Arien mit solchen Ritornellen versehen seyn, die singend und ausdrückend sind, um von der Folge, in der Kürze, einen Vorschmack zu geben; nicht aber nach dem allgemeinen Schlentrian der welschen Alltagscomponisten, wo das Ritornell von einem, und das übrige von einem andern gemacht zu seyn scheint. Man gebe bey Beurtheilung einer Oper ferner Acht: ob die Arien singbar seyn, und dabey den Sängern Gelegenheit geben, ihre Fähigkeit zu zeigen; ob der Componist die Leidenschaften, so wie es die Materie erfodert, ausgedrücket, eine jede von der andern wohl unterschieden, und an ihren gehörigen Ort gebracht habe; ob er einen jeden Sänger, vom ersten bis zum letzten, ohne Partheylichkeit, nach seiner Rolle, Stimme, und Fähigkeit eingekleidet habe; ob er das Sylbenmaaß,

mehrere Freyheit hat, gewiß noch weniger zu thun vermögend seyn. Wer aber ungeachtet einiges Zwanges schon zu rühren weis, von dem kann man sich, wenn er völlige Freyheit hat, noch viel ein Mehreres versprechen. Würde also wohl die schlechte Ausführung der Kirchenmusiken, an vielen Orten, ein hinreichender Bewegungsgrund seyn können, so gleich alle Kirchenmusiken als etwas ungefälliges zu verwerfen?

23. §.

Die theatralische Musik besteht entweder aus Opern, oder Pastoralen, (Schäferspielen,) oder Zwischenspielen, (Intermezzen.) Die Opern sind entweder wirkliche Trauerspiele, oder Trauerspiele mit einem frölichen Ende, welche den Tragikomödien ähnlich sind. Ob wohl eine jede Gattung der theatralischen Stücke ihre eigene und besondere Schreibart erfodert: so bedienen sich doch die Componisten mehrentheils, um ihren Einfällen völlig den Zügel zu lassen, hierinn vieler Freyheit; welche sie aber dessen ungeachtet nicht von den Pflichten, sich sowohl an die Worte, als an die Eigenschaften und den Zusammenhang der Sache zu binden, frey sprechen kann.

24. §.

Wer die Musik einer Oper gründlich beurtheilen will, muß untersuchen: ob die Sinfonie entweder mit dem Inhalte des ganzen Stückes, oder mit dem ersten Acte, oder zum wenigsten mit der ersten Scene einen Verhalt habe, und die Zuhörer in den Affect, welchen die erste Handlung in sich hat, er sey zärtlich, oder traurig, oder lustig, oder heroisch, oder wütend, u. d. m. zu versetzen vermögend sey(*) s. hiervon mit Mehrerm den 43. §. dieses Hauptstücks. Es ist zu beobachten: ob das Recitativ natürlich, sprechend, ausdrückend, und für die Sänger weder zu tief, noch zu hoch gesetzet sey; ob die Arien mit solchen Ritornellen versehen seyn, die singend und ausdrückend sind, um von der Folge, in der Kürze, einen Vorschmack zu geben; nicht aber nach dem allgemeinen Schlentrian der welschen Alltagscomponisten, wo das Ritornell von einem, und das übrige von einem andern gemacht zu seyn scheint. Man gebe bey Beurtheilung einer Oper ferner Acht: ob die Arien singbar seyn, und dabey den Sängern Gelegenheit geben, ihre Fähigkeit zu zeigen; ob der Componist die Leidenschaften, so wie es die Materie erfodert, ausgedrücket, eine jede von der andern wohl unterschieden, und an ihren gehörigen Ort gebracht habe; ob er einen jeden Sänger, vom ersten bis zum letzten, ohne Partheylichkeit, nach seiner Rolle, Stimme, und Fähigkeit eingekleidet habe; ob er das Sylbenmaaß,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0304" n="290"/>
mehrere Freyheit hat, gewiß noch weniger zu thun vermögend seyn. Wer aber ungeachtet einiges Zwanges schon zu rühren weis, von dem kann man sich, wenn er völlige Freyheit hat, noch viel ein Mehreres versprechen. Würde also wohl die schlechte Ausführung der Kirchenmusiken, an vielen Orten, ein hinreichender Bewegungsgrund seyn können, so gleich alle Kirchenmusiken als etwas ungefälliges zu verwerfen?</p>
          </div>
          <div n="3">
            <head>23. §.</head><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#fr">theatralische Musik</hi> besteht entweder aus <hi rendition="#fr">Opern</hi>, oder <hi rendition="#fr">Pastoralen</hi>, (Schäferspielen,) oder <hi rendition="#fr">Zwischenspielen</hi>, (Intermezzen.) Die Opern sind entweder wirkliche Trauerspiele, oder Trauerspiele mit einem frölichen Ende, welche den Tragikomödien ähnlich sind. Ob wohl eine jede Gattung der theatralischen Stücke ihre eigene und besondere Schreibart erfodert: so bedienen sich doch die Componisten mehrentheils, um ihren Einfällen völlig den Zügel zu lassen, hierinn vieler Freyheit; welche sie aber dessen ungeachtet nicht von den Pflichten, sich sowohl an die Worte, als an die Eigenschaften und den Zusammenhang der Sache zu binden, frey sprechen kann.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <head>24. §.</head><lb/>
            <p>Wer die Musik einer Oper gründlich beurtheilen will, muß untersuchen: ob die Sinfonie entweder mit dem Inhalte des ganzen Stückes, oder mit dem ersten Acte, oder zum wenigsten mit der ersten Scene einen Verhalt habe, und die Zuhörer in den Affect, welchen die erste Handlung in sich hat, er sey zärtlich, oder traurig, oder lustig, oder heroisch, oder wütend, u. d. m. zu versetzen vermögend sey<note xml:id="note-0304-fn" next="note-0305" place="end" n="(*)"/> s. hiervon mit Mehrerm den 43. §. dieses Hauptstücks. Es ist zu beobachten: ob das Recitativ natürlich, sprechend, ausdrückend, und für die Sänger weder zu tief, noch zu hoch gesetzet sey; ob die Arien mit solchen Ritornellen versehen seyn, die singend und ausdrückend sind, um von der Folge, in der Kürze, einen Vorschmack zu geben; nicht aber nach dem allgemeinen Schlentrian der welschen Alltagscomponisten, wo das Ritornell von einem, und das übrige von einem andern gemacht zu seyn scheint. Man gebe bey Beurtheilung einer Oper ferner Acht: ob die Arien singbar seyn, und dabey den Sängern Gelegenheit geben, ihre Fähigkeit zu zeigen; ob der Componist die Leidenschaften, so wie es die Materie erfodert, ausgedrücket, eine jede von der andern wohl unterschieden, und an ihren gehörigen Ort gebracht habe; ob er einen jeden Sänger, vom ersten bis zum letzten, ohne Partheylichkeit, nach seiner Rolle, Stimme, und Fähigkeit eingekleidet habe; ob er das Sylbenmaaß,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[290/0304] mehrere Freyheit hat, gewiß noch weniger zu thun vermögend seyn. Wer aber ungeachtet einiges Zwanges schon zu rühren weis, von dem kann man sich, wenn er völlige Freyheit hat, noch viel ein Mehreres versprechen. Würde also wohl die schlechte Ausführung der Kirchenmusiken, an vielen Orten, ein hinreichender Bewegungsgrund seyn können, so gleich alle Kirchenmusiken als etwas ungefälliges zu verwerfen? 23. §. Die theatralische Musik besteht entweder aus Opern, oder Pastoralen, (Schäferspielen,) oder Zwischenspielen, (Intermezzen.) Die Opern sind entweder wirkliche Trauerspiele, oder Trauerspiele mit einem frölichen Ende, welche den Tragikomödien ähnlich sind. Ob wohl eine jede Gattung der theatralischen Stücke ihre eigene und besondere Schreibart erfodert: so bedienen sich doch die Componisten mehrentheils, um ihren Einfällen völlig den Zügel zu lassen, hierinn vieler Freyheit; welche sie aber dessen ungeachtet nicht von den Pflichten, sich sowohl an die Worte, als an die Eigenschaften und den Zusammenhang der Sache zu binden, frey sprechen kann. 24. §. Wer die Musik einer Oper gründlich beurtheilen will, muß untersuchen: ob die Sinfonie entweder mit dem Inhalte des ganzen Stückes, oder mit dem ersten Acte, oder zum wenigsten mit der ersten Scene einen Verhalt habe, und die Zuhörer in den Affect, welchen die erste Handlung in sich hat, er sey zärtlich, oder traurig, oder lustig, oder heroisch, oder wütend, u. d. m. zu versetzen vermögend sey ⁽*⁾ s. hiervon mit Mehrerm den 43. §. dieses Hauptstücks. Es ist zu beobachten: ob das Recitativ natürlich, sprechend, ausdrückend, und für die Sänger weder zu tief, noch zu hoch gesetzet sey; ob die Arien mit solchen Ritornellen versehen seyn, die singend und ausdrückend sind, um von der Folge, in der Kürze, einen Vorschmack zu geben; nicht aber nach dem allgemeinen Schlentrian der welschen Alltagscomponisten, wo das Ritornell von einem, und das übrige von einem andern gemacht zu seyn scheint. Man gebe bey Beurtheilung einer Oper ferner Acht: ob die Arien singbar seyn, und dabey den Sängern Gelegenheit geben, ihre Fähigkeit zu zeigen; ob der Componist die Leidenschaften, so wie es die Materie erfodert, ausgedrücket, eine jede von der andern wohl unterschieden, und an ihren gehörigen Ort gebracht habe; ob er einen jeden Sänger, vom ersten bis zum letzten, ohne Partheylichkeit, nach seiner Rolle, Stimme, und Fähigkeit eingekleidet habe; ob er das Sylbenmaaß,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-30T10:17:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-30T10:17:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-30T10:17:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752/304
Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuchws_1752/304>, abgerufen am 20.11.2024.