Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.16. §. Es wolle niemand auf die Gedanken gerathen, als wenn ich verlangete, daß ein jedes musikalisches Stück nach den steifen Regeln des doppelten Contrapuncts, das ist, nach den Regeln, wie die Stimmen einzurichten sind, welche zugleich mit einander, auf eine wohlklingende Art, umgekehret, verwechselt, und versetzet werden sollen, abgemeßen werden müßte. Nein, dieses wäre eine verwerfliche Pedanterey. Ich behaupte nur, daß ein jeder Componist solche Regeln zu wissen schuldig sey; die Künsteleyen aber da, wo es der gute Gesang erlaubet, so zu untermischen suchen müsse, daß weder am schönen Gesange, noch an der guten Ausnahme, irgend einiger Abbruch verspüret werde; und daß der Zuhörer keinen ängstlichen Fleiß dabey bemerke: sondern daß überall die Natur hervorleuchte. Das Wort: Contrapunct, pfleget sonst bey denen, die nur dem bloßen Naturell zu folgen gedenken, mehrentheils einen widrigen Eindruck zu machen, und für überflüßige Schulfüchserey gehalten zu werden. Die Ursache ist, weil ihnen nur der Name, nicht aber die Eigenschaft und der Nutzen davon, bekannt ist. Hätten sie nur eine kleine Erkenntnis davon erlanget; so würde ihnen dieses Wort nicht so fürchterlich klingen. Ich will eben keinen Lobredner aller Arten der doppelten Contrapuncte überhaupt abgeben: obgleich ein jeder davon, in gewisser Art, und zu rechter Zeit, seinen Nutzen haben kann. Doch kann ich auch nicht umhin, absonderlich dem Contrapunct all'Ottava sein Recht wiederfahren zu lassen, und die genaue Kenntniß deßelben, als eine unentbehrliche Sache, einem jeden angehenden Componisten anzupreißen: weil dieser Contrapunct nicht nur bey Fugen und andern künstlichen Stücken höchst nöthig ist, sondern auch bey vielen galanten Nachahmungen und Verkehrungen der Stimmen treffliche Dienste thut. Daß aber die Alten in den musikalischen Künsteleyen sich zu sehr vertiefet haben, und zu weit darinne gegangen sind; so daß sie darüber das Nothwendigste in der Musik, ich meyne das Rührende und Gefällige, fast verabsäumet haben; ist an dem. Allein, was kann der Contrapunct dafür, wenn die Contrapunctisten mit demselben nicht recht umzugehen wissen, oder einen Misbrauch daraus machen; und wenn die Liebhaber der Musik, aus Mangel der Erkenntniß, keinen Geschmack daran finden? Haben es nicht alle übrigen Wissenschaften mit dem Contrapuncte gemein, daß man ohne die Kenntniß derselben, auch kein Vergnügen davon haben kann? Z. E. Wer kann sagen, daß er an der Trigonometrie, oder der Algebra Geschmack finde, wenn 16. §. Es wolle niemand auf die Gedanken gerathen, als wenn ich verlangete, daß ein jedes musikalisches Stück nach den steifen Regeln des doppelten Contrapuncts, das ist, nach den Regeln, wie die Stimmen einzurichten sind, welche zugleich mit einander, auf eine wohlklingende Art, umgekehret, verwechselt, und versetzet werden sollen, abgemeßen werden müßte. Nein, dieses wäre eine verwerfliche Pedanterey. Ich behaupte nur, daß ein jeder Componist solche Regeln zu wissen schuldig sey; die Künsteleyen aber da, wo es der gute Gesang erlaubet, so zu untermischen suchen müsse, daß weder am schönen Gesange, noch an der guten Ausnahme, irgend einiger Abbruch verspüret werde; und daß der Zuhörer keinen ängstlichen Fleiß dabey bemerke: sondern daß überall die Natur hervorleuchte. Das Wort: Contrapunct, pfleget sonst bey denen, die nur dem bloßen Naturell zu folgen gedenken, mehrentheils einen widrigen Eindruck zu machen, und für überflüßige Schulfüchserey gehalten zu werden. Die Ursache ist, weil ihnen nur der Name, nicht aber die Eigenschaft und der Nutzen davon, bekannt ist. Hätten sie nur eine kleine Erkenntnis davon erlanget; so würde ihnen dieses Wort nicht so fürchterlich klingen. Ich will eben keinen Lobredner aller Arten der doppelten Contrapuncte überhaupt abgeben: obgleich ein jeder davon, in gewisser Art, und zu rechter Zeit, seinen Nutzen haben kann. Doch kann ich auch nicht umhin, absonderlich dem Contrapunct all’Ottava sein Recht wiederfahren zu lassen, und die genaue Kenntniß deßelben, als eine unentbehrliche Sache, einem jeden angehenden Componisten anzupreißen: weil dieser Contrapunct nicht nur bey Fugen und andern künstlichen Stücken höchst nöthig ist, sondern auch bey vielen galanten Nachahmungen und Verkehrungen der Stimmen treffliche Dienste thut. Daß aber die Alten in den musikalischen Künsteleyen sich zu sehr vertiefet haben, und zu weit darinne gegangen sind; so daß sie darüber das Nothwendigste in der Musik, ich meyne das Rührende und Gefällige, fast verabsäumet haben; ist an dem. Allein, was kann der Contrapunct dafür, wenn die Contrapunctisten mit demselben nicht recht umzugehen wissen, oder einen Misbrauch daraus machen; und wenn die Liebhaber der Musik, aus Mangel der Erkenntniß, keinen Geschmack daran finden? Haben es nicht alle übrigen Wissenschaften mit dem Contrapuncte gemein, daß man ohne die Kenntniß derselben, auch kein Vergnügen davon haben kann? Z. E. Wer kann sagen, daß er an der Trigonometrie, oder der Algebra Geschmack finde, wenn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0030" n="16"/> </div> <div n="3"> <head>16. §.</head><lb/> <p>Es wolle niemand auf die Gedanken gerathen, als wenn ich verlangete, daß ein jedes musikalisches Stück nach den steifen Regeln des doppelten Contrapuncts, das ist, nach den Regeln, wie die Stimmen einzurichten sind, welche zugleich mit einander, auf eine wohlklingende Art, umgekehret, verwechselt, und versetzet werden sollen, abgemeßen werden müßte. Nein, dieses wäre eine verwerfliche Pedanterey. Ich behaupte nur, daß ein jeder Componist solche Regeln zu wissen schuldig sey; die Künsteleyen aber da, wo es der gute Gesang erlaubet, so zu untermischen suchen müsse, daß weder am schönen Gesange, noch an der guten Ausnahme, irgend einiger Abbruch verspüret werde; und daß der Zuhörer keinen ängstlichen Fleiß dabey bemerke: sondern daß überall die Natur hervorleuchte. Das Wort: Contrapunct, pfleget sonst bey denen, die nur dem bloßen Naturell zu folgen gedenken, mehrentheils einen widrigen Eindruck zu machen, und für überflüßige Schulfüchserey gehalten zu werden. Die Ursache ist, weil ihnen nur der Name, nicht aber die Eigenschaft und der Nutzen davon, bekannt ist. Hätten sie nur eine kleine Erkenntnis davon erlanget; so würde ihnen dieses Wort nicht so fürchterlich klingen. Ich will eben keinen Lobredner aller Arten der doppelten Contrapuncte überhaupt abgeben: obgleich ein jeder davon, in gewisser Art, und zu rechter Zeit, seinen Nutzen haben kann. Doch kann ich auch nicht umhin, absonderlich dem Contrapunct all’Ottava sein Recht wiederfahren zu lassen, und die genaue Kenntniß deßelben, als eine unentbehrliche Sache, einem jeden angehenden Componisten anzupreißen: weil dieser Contrapunct nicht nur bey Fugen und andern künstlichen Stücken höchst nöthig ist, sondern auch bey vielen galanten Nachahmungen und Verkehrungen der Stimmen treffliche Dienste thut. Daß aber die Alten in den musikalischen Künsteleyen sich zu sehr vertiefet haben, und zu weit darinne gegangen sind; so daß sie darüber das Nothwendigste in der Musik, ich meyne das Rührende und Gefällige, fast verabsäumet haben; ist an dem. Allein, was kann der Contrapunct dafür, wenn die Contrapunctisten mit demselben nicht recht umzugehen wissen, oder einen Misbrauch daraus machen; und wenn die Liebhaber der Musik, aus Mangel der Erkenntniß, keinen Geschmack daran finden? Haben es nicht alle übrigen Wissenschaften mit dem Contrapuncte gemein, daß man ohne die Kenntniß derselben, auch kein Vergnügen davon haben kann? Z. E. Wer kann sagen, daß er an der Trigonometrie, oder der Algebra Geschmack finde, wenn </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [16/0030]
16. §.
Es wolle niemand auf die Gedanken gerathen, als wenn ich verlangete, daß ein jedes musikalisches Stück nach den steifen Regeln des doppelten Contrapuncts, das ist, nach den Regeln, wie die Stimmen einzurichten sind, welche zugleich mit einander, auf eine wohlklingende Art, umgekehret, verwechselt, und versetzet werden sollen, abgemeßen werden müßte. Nein, dieses wäre eine verwerfliche Pedanterey. Ich behaupte nur, daß ein jeder Componist solche Regeln zu wissen schuldig sey; die Künsteleyen aber da, wo es der gute Gesang erlaubet, so zu untermischen suchen müsse, daß weder am schönen Gesange, noch an der guten Ausnahme, irgend einiger Abbruch verspüret werde; und daß der Zuhörer keinen ängstlichen Fleiß dabey bemerke: sondern daß überall die Natur hervorleuchte. Das Wort: Contrapunct, pfleget sonst bey denen, die nur dem bloßen Naturell zu folgen gedenken, mehrentheils einen widrigen Eindruck zu machen, und für überflüßige Schulfüchserey gehalten zu werden. Die Ursache ist, weil ihnen nur der Name, nicht aber die Eigenschaft und der Nutzen davon, bekannt ist. Hätten sie nur eine kleine Erkenntnis davon erlanget; so würde ihnen dieses Wort nicht so fürchterlich klingen. Ich will eben keinen Lobredner aller Arten der doppelten Contrapuncte überhaupt abgeben: obgleich ein jeder davon, in gewisser Art, und zu rechter Zeit, seinen Nutzen haben kann. Doch kann ich auch nicht umhin, absonderlich dem Contrapunct all’Ottava sein Recht wiederfahren zu lassen, und die genaue Kenntniß deßelben, als eine unentbehrliche Sache, einem jeden angehenden Componisten anzupreißen: weil dieser Contrapunct nicht nur bey Fugen und andern künstlichen Stücken höchst nöthig ist, sondern auch bey vielen galanten Nachahmungen und Verkehrungen der Stimmen treffliche Dienste thut. Daß aber die Alten in den musikalischen Künsteleyen sich zu sehr vertiefet haben, und zu weit darinne gegangen sind; so daß sie darüber das Nothwendigste in der Musik, ich meyne das Rührende und Gefällige, fast verabsäumet haben; ist an dem. Allein, was kann der Contrapunct dafür, wenn die Contrapunctisten mit demselben nicht recht umzugehen wissen, oder einen Misbrauch daraus machen; und wenn die Liebhaber der Musik, aus Mangel der Erkenntniß, keinen Geschmack daran finden? Haben es nicht alle übrigen Wissenschaften mit dem Contrapuncte gemein, daß man ohne die Kenntniß derselben, auch kein Vergnügen davon haben kann? Z. E. Wer kann sagen, daß er an der Trigonometrie, oder der Algebra Geschmack finde, wenn
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-10-30T10:17:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-10-30T10:17:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-10-30T10:17:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |