Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite

Das XV. Hauptstück.
wie die Vögel ihren Gesang lernen, ohne zu wissen worinn sie bestehen,
und wohin sie sich schicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem
traurigen Stücke etwan eine lustige, oder in einem lustigen wieder eine
traurige Cadenz hören lassen will.

8. §.

Die Cadenzen müssen aus dem Hauptaffecte des Stückes fließen,
und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefälligsten Clauseln,
die in dem Stücke enthalten sind, in sich fassen. Zuweilen trifft sichs,
daß man wegen Zerstreuung der Gedanken nicht sogleich etwas neues zu
erfinden weis. Hier ist nun kein besser Mittel, als daß man sich, aus
dem Vorhergehenden, eine von den gefälligsten Clauseln erwähle, und die
Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den
Mangel der Erfindung ersetzen; sondern man wird auch jederzeit der herr-
schenden Leidenschaft des Stückes eine Gnüge thun. Dieses will ich
einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen
haben.

9. §.

Die Cadenzen sind entweder ein- oder zweystimmig. Die einstim-
migen vornehmlich sind, wie oben schon gesaget worden, willkührlich. Sie
müssen kurz und neu seyn, und den Zuhörer überraschen, wie ein bon
mot.
Folglich müssen sie so klingen, als wenn sie in dem Augenblicke, da
man sie machet, erst gebohren würden. Man gehe demnach nicht zu ver-
schwenderisch, sondern als ein guter Wirth damit um; besonders wenn
man öfters einerley Zuhörer vor sich hat.

10. §.

Weil der Umfang sehr klein, und leicht zu erschöpfen ist: so fällt es
schwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca-
denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.

11. §.

Weder die Figuren, noch die simpeln Jntervalle, womit man die
Cadenz anfängt und endiget, dürfen in der Transposition mehr als zwey-
mal wiederholet werden; sonst werden sie zum Ekel. Jch will hierüber
zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muster geben; s. Tab. XX. Fig. 1.
und Fig. 2. Jn der ersten finden sich zwar zweyerley Figuren. Weil
aber eine jede Figur viermal gehöret wird: so empfindet das Gehör einen
Verdruß darüber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein-
mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie ist

deswegen

Das XV. Hauptſtuͤck.
wie die Voͤgel ihren Geſang lernen, ohne zu wiſſen worinn ſie beſtehen,
und wohin ſie ſich ſchicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem
traurigen Stuͤcke etwan eine luſtige, oder in einem luſtigen wieder eine
traurige Cadenz hoͤren laſſen will.

8. §.

Die Cadenzen muͤſſen aus dem Hauptaffecte des Stuͤckes fließen,
und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefaͤlligſten Clauſeln,
die in dem Stuͤcke enthalten ſind, in ſich faſſen. Zuweilen trifft ſichs,
daß man wegen Zerſtreuung der Gedanken nicht ſogleich etwas neues zu
erfinden weis. Hier iſt nun kein beſſer Mittel, als daß man ſich, aus
dem Vorhergehenden, eine von den gefaͤlligſten Clauſeln erwaͤhle, und die
Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den
Mangel der Erfindung erſetzen; ſondern man wird auch jederzeit der herr-
ſchenden Leidenſchaft des Stuͤckes eine Gnuͤge thun. Dieſes will ich
einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen
haben.

9. §.

Die Cadenzen ſind entweder ein- oder zweyſtimmig. Die einſtim-
migen vornehmlich ſind, wie oben ſchon geſaget worden, willkuͤhrlich. Sie
muͤſſen kurz und neu ſeyn, und den Zuhoͤrer uͤberraſchen, wie ein bon
mot.
Folglich muͤſſen ſie ſo klingen, als wenn ſie in dem Augenblicke, da
man ſie machet, erſt gebohren wuͤrden. Man gehe demnach nicht zu ver-
ſchwenderiſch, ſondern als ein guter Wirth damit um; beſonders wenn
man oͤfters einerley Zuhoͤrer vor ſich hat.

10. §.

Weil der Umfang ſehr klein, und leicht zu erſchoͤpfen iſt: ſo faͤllt es
ſchwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca-
denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.

11. §.

Weder die Figuren, noch die ſimpeln Jntervalle, womit man die
Cadenz anfaͤngt und endiget, duͤrfen in der Transpoſition mehr als zwey-
mal wiederholet werden; ſonſt werden ſie zum Ekel. Jch will hieruͤber
zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muſter geben; ſ. Tab. XX. Fig. 1.
und Fig. 2. Jn der erſten finden ſich zwar zweyerley Figuren. Weil
aber eine jede Figur viermal gehoͤret wird: ſo empfindet das Gehoͤr einen
Verdruß daruͤber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein-
mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie iſt

deswegen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0172" n="154"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">XV.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi></fw><lb/>
wie die Vo&#x0364;gel ihren Ge&#x017F;ang lernen, ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en worinn &#x017F;ie be&#x017F;tehen,<lb/>
und wohin &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;chicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem<lb/>
traurigen Stu&#x0364;cke etwan eine lu&#x017F;tige, oder in einem lu&#x017F;tigen wieder eine<lb/>
traurige Cadenz ho&#x0364;ren la&#x017F;&#x017F;en will.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>8. §.</head><lb/>
            <p>Die Cadenzen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en aus dem Hauptaffecte des Stu&#x0364;ckes fließen,<lb/>
und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefa&#x0364;llig&#x017F;ten Clau&#x017F;eln,<lb/>
die in dem Stu&#x0364;cke enthalten &#x017F;ind, in &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;en. Zuweilen trifft &#x017F;ichs,<lb/>
daß man wegen Zer&#x017F;treuung der Gedanken nicht &#x017F;ogleich etwas neues zu<lb/>
erfinden weis. Hier i&#x017F;t nun kein be&#x017F;&#x017F;er Mittel, als daß man &#x017F;ich, aus<lb/>
dem Vorhergehenden, eine von den gefa&#x0364;llig&#x017F;ten Clau&#x017F;eln erwa&#x0364;hle, und die<lb/>
Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den<lb/>
Mangel der Erfindung er&#x017F;etzen; &#x017F;ondern man wird auch jederzeit der herr-<lb/>
&#x017F;chenden Leiden&#x017F;chaft des Stu&#x0364;ckes eine Gnu&#x0364;ge thun. Die&#x017F;es will ich<lb/>
einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen<lb/>
haben.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>9. §.</head><lb/>
            <p>Die Cadenzen &#x017F;ind entweder ein- oder zwey&#x017F;timmig. Die ein&#x017F;tim-<lb/>
migen vornehmlich &#x017F;ind, wie oben &#x017F;chon ge&#x017F;aget worden, willku&#x0364;hrlich. Sie<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en kurz und neu &#x017F;eyn, und den Zuho&#x0364;rer u&#x0364;berra&#x017F;chen, wie ein <hi rendition="#aq">bon<lb/>
mot.</hi> Folglich mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;o klingen, als wenn &#x017F;ie in dem Augenblicke, da<lb/>
man &#x017F;ie machet, er&#x017F;t gebohren wu&#x0364;rden. Man gehe demnach nicht zu ver-<lb/>
&#x017F;chwenderi&#x017F;ch, &#x017F;ondern als ein guter Wirth damit um; be&#x017F;onders wenn<lb/>
man o&#x0364;fters einerley Zuho&#x0364;rer vor &#x017F;ich hat.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>10. §.</head><lb/>
            <p>Weil der Umfang &#x017F;ehr klein, und leicht zu er&#x017F;cho&#x0364;pfen i&#x017F;t: &#x017F;o fa&#x0364;llt es<lb/>
&#x017F;chwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca-<lb/>
denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>11. §.</head><lb/>
            <p>Weder die Figuren, noch die &#x017F;impeln Jntervalle, womit man die<lb/>
Cadenz anfa&#x0364;ngt und endiget, du&#x0364;rfen in der Transpo&#x017F;ition mehr als zwey-<lb/>
mal wiederholet werden; &#x017F;on&#x017F;t werden &#x017F;ie zum Ekel. Jch will hieru&#x0364;ber<lb/>
zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Mu&#x017F;ter geben; &#x017F;. Tab. <hi rendition="#aq">XX.</hi> Fig. 1.<lb/>
und Fig. 2. Jn der er&#x017F;ten finden &#x017F;ich zwar zweyerley Figuren. Weil<lb/>
aber eine jede Figur viermal geho&#x0364;ret wird: &#x017F;o empfindet das Geho&#x0364;r einen<lb/>
Verdruß daru&#x0364;ber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein-<lb/>
mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">deswegen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[154/0172] Das XV. Hauptſtuͤck. wie die Voͤgel ihren Geſang lernen, ohne zu wiſſen worinn ſie beſtehen, und wohin ſie ſich ſchicken, auswendig lernen, und bisweilen in einem traurigen Stuͤcke etwan eine luſtige, oder in einem luſtigen wieder eine traurige Cadenz hoͤren laſſen will. 8. §. Die Cadenzen muͤſſen aus dem Hauptaffecte des Stuͤckes fließen, und eine kurze Wiederholung oder Nachahmung der gefaͤlligſten Clauſeln, die in dem Stuͤcke enthalten ſind, in ſich faſſen. Zuweilen trifft ſichs, daß man wegen Zerſtreuung der Gedanken nicht ſogleich etwas neues zu erfinden weis. Hier iſt nun kein beſſer Mittel, als daß man ſich, aus dem Vorhergehenden, eine von den gefaͤlligſten Clauſeln erwaͤhle, und die Cadenz daraus bilde. Hierdurch kann man nicht nur zu allen Zeiten den Mangel der Erfindung erſetzen; ſondern man wird auch jederzeit der herr- ſchenden Leidenſchaft des Stuͤckes eine Gnuͤge thun. Dieſes will ich einem jeden, als einen nicht gar zu bekannten Vortheil, empfohlen haben. 9. §. Die Cadenzen ſind entweder ein- oder zweyſtimmig. Die einſtim- migen vornehmlich ſind, wie oben ſchon geſaget worden, willkuͤhrlich. Sie muͤſſen kurz und neu ſeyn, und den Zuhoͤrer uͤberraſchen, wie ein bon mot. Folglich muͤſſen ſie ſo klingen, als wenn ſie in dem Augenblicke, da man ſie machet, erſt gebohren wuͤrden. Man gehe demnach nicht zu ver- ſchwenderiſch, ſondern als ein guter Wirth damit um; beſonders wenn man oͤfters einerley Zuhoͤrer vor ſich hat. 10. §. Weil der Umfang ſehr klein, und leicht zu erſchoͤpfen iſt: ſo faͤllt es ſchwer die Aehnlichkeit zu vermeiden. Man darf deswegen in einer Ca- denz nicht zu vielerley Gedanken anbringen. 11. §. Weder die Figuren, noch die ſimpeln Jntervalle, womit man die Cadenz anfaͤngt und endiget, duͤrfen in der Transpoſition mehr als zwey- mal wiederholet werden; ſonſt werden ſie zum Ekel. Jch will hieruͤber zwo Cadenzen, in einerley Art, zum Muſter geben; ſ. Tab. XX. Fig. 1. und Fig. 2. Jn der erſten finden ſich zwar zweyerley Figuren. Weil aber eine jede Figur viermal gehoͤret wird: ſo empfindet das Gehoͤr einen Verdruß daruͤber. Jn der zweyten hingegen werden die Figuren nur ein- mal wiederholet, und wieder durch neue Figuren unterbrochen. Sie iſt deswegen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/172
Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/172>, abgerufen am 13.11.2024.