Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

Es gibt ohne Zweifel drei Naturen im Menschen;
eine Pflanzennatur, die sich begnügt zu vegetiren,
eine thierische, die zerstört, und eine geistige, die
schafft. Viele begnügen sich mit der ersten, die mei-
sten nehmen noch die zweite in Anspruch, und nicht
allzuviele die dritte. Ich muß leider gestehen, daß
meine hiesige Lebensart mich nur in der erstgenann-
ten Classe verweilen läßt, was mich oft sehr unbe-
friedigt stimmt, but I can't help it.

Du hast wohl ehemals von dem englischen Roscius
gehört? ein neues Wundermännchen dieser Art ist
aufgetreten, und die Reife seines frühzeitigen Ta-
lents ist in der That höchst auffallend. Master Burke,
so wird der zehnjährige Knabe genannt, spielte im
Surrey-Theater bei vollem Hause 5--6 sehr ver-
schiedene Rollen mit einer Laune, scheinbaren Büh-
nenerfahrung, Aplomb, Volubilität der Sprache,
treuem Gedächtniß, und gelenkiger Gewandtheit sei-
ner kleinen Person, die in Erstaunen setzen. Was
mich aber am meisten frappirte, war, daß er in ei-
nem Vorspiel seine natürliche Rolle, nämlich die ei-
nes Jungens von 10 Jahrer., ebenfalls mit so un-
gemeiner Wahrheit gab, daß diese ächte Naivität dar-
gestellter Kindlichkeit, nur Inspiration des Genies,
ohnmöglich Resultat der Reflection bei einem solchen
Knaben seyn konnte. Er begann die nachfolgenden
Charaktere mit der Rolle eines italienischen Musik-


Es gibt ohne Zweifel drei Naturen im Menſchen;
eine Pflanzennatur, die ſich begnügt zu vegetiren,
eine thieriſche, die zerſtört, und eine geiſtige, die
ſchafft. Viele begnügen ſich mit der erſten, die mei-
ſten nehmen noch die zweite in Anſpruch, und nicht
allzuviele die dritte. Ich muß leider geſtehen, daß
meine hieſige Lebensart mich nur in der erſtgenann-
ten Claſſe verweilen läßt, was mich oft ſehr unbe-
friedigt ſtimmt, but I can’t help it.

Du haſt wohl ehemals von dem engliſchen Roscius
gehört? ein neues Wundermännchen dieſer Art iſt
aufgetreten, und die Reife ſeines frühzeitigen Ta-
lents iſt in der That höchſt auffallend. Maſter Burke,
ſo wird der zehnjährige Knabe genannt, ſpielte im
Surrey-Theater bei vollem Hauſe 5—6 ſehr ver-
ſchiedene Rollen mit einer Laune, ſcheinbaren Büh-
nenerfahrung, Aplomb, Volubilität der Sprache,
treuem Gedächtniß, und gelenkiger Gewandtheit ſei-
ner kleinen Perſon, die in Erſtaunen ſetzen. Was
mich aber am meiſten frappirte, war, daß er in ei-
nem Vorſpiel ſeine natürliche Rolle, nämlich die ei-
nes Jungens von 10 Jahrer., ebenfalls mit ſo un-
gemeiner Wahrheit gab, daß dieſe ächte Naivität dar-
geſtellter Kindlichkeit, nur Inſpiration des Genies,
ohnmöglich Reſultat der Reflection bei einem ſolchen
Knaben ſeyn konnte. Er begann die nachfolgenden
Charaktere mit der Rolle eines italieniſchen Muſik-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0301" n="283"/>
        <div n="2">
          <opener>
            <dateline> <hi rendition="#et">Den 21ten.</hi> </dateline>
          </opener><lb/>
          <p>Es gibt ohne Zweifel drei Naturen im Men&#x017F;chen;<lb/>
eine Pflanzennatur, die &#x017F;ich begnügt zu vegetiren,<lb/>
eine thieri&#x017F;che, die zer&#x017F;tört, und eine gei&#x017F;tige, die<lb/>
&#x017F;chafft. Viele begnügen &#x017F;ich mit der er&#x017F;ten, die mei-<lb/>
&#x017F;ten nehmen noch die zweite in An&#x017F;pruch, und nicht<lb/>
allzuviele die dritte. Ich muß leider ge&#x017F;tehen, daß<lb/>
meine hie&#x017F;ige Lebensart mich nur in der er&#x017F;tgenann-<lb/>
ten Cla&#x017F;&#x017F;e verweilen läßt, was mich oft &#x017F;ehr unbe-<lb/>
friedigt &#x017F;timmt, <hi rendition="#aq">but I can&#x2019;t help it.</hi></p><lb/>
          <p>Du ha&#x017F;t wohl ehemals von dem engli&#x017F;chen Roscius<lb/>
gehört? ein neues Wundermännchen die&#x017F;er Art i&#x017F;t<lb/>
aufgetreten, und die Reife &#x017F;eines frühzeitigen Ta-<lb/>
lents i&#x017F;t in der That höch&#x017F;t auffallend. Ma&#x017F;ter Burke,<lb/>
&#x017F;o wird der zehnjährige Knabe genannt, &#x017F;pielte im<lb/>
Surrey-Theater bei vollem Hau&#x017F;e 5&#x2014;6 &#x017F;ehr ver-<lb/>
&#x017F;chiedene Rollen mit einer Laune, &#x017F;cheinbaren Büh-<lb/>
nenerfahrung, Aplomb, Volubilität der Sprache,<lb/>
treuem Gedächtniß, und gelenkiger Gewandtheit &#x017F;ei-<lb/>
ner kleinen Per&#x017F;on, die in Er&#x017F;taunen &#x017F;etzen. Was<lb/>
mich aber am mei&#x017F;ten frappirte, war, daß er in ei-<lb/>
nem Vor&#x017F;piel &#x017F;eine natürliche Rolle, nämlich die ei-<lb/>
nes Jungens von 10 Jahrer., ebenfalls mit &#x017F;o un-<lb/>
gemeiner Wahrheit gab, daß die&#x017F;e ächte Naivität dar-<lb/>
ge&#x017F;tellter Kindlichkeit, nur In&#x017F;piration des Genies,<lb/>
ohnmöglich Re&#x017F;ultat der Reflection bei einem &#x017F;olchen<lb/>
Knaben &#x017F;eyn konnte. Er begann die nachfolgenden<lb/>
Charaktere mit der Rolle eines italieni&#x017F;chen Mu&#x017F;ik-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[283/0301] Den 21ten. Es gibt ohne Zweifel drei Naturen im Menſchen; eine Pflanzennatur, die ſich begnügt zu vegetiren, eine thieriſche, die zerſtört, und eine geiſtige, die ſchafft. Viele begnügen ſich mit der erſten, die mei- ſten nehmen noch die zweite in Anſpruch, und nicht allzuviele die dritte. Ich muß leider geſtehen, daß meine hieſige Lebensart mich nur in der erſtgenann- ten Claſſe verweilen läßt, was mich oft ſehr unbe- friedigt ſtimmt, but I can’t help it. Du haſt wohl ehemals von dem engliſchen Roscius gehört? ein neues Wundermännchen dieſer Art iſt aufgetreten, und die Reife ſeines frühzeitigen Ta- lents iſt in der That höchſt auffallend. Maſter Burke, ſo wird der zehnjährige Knabe genannt, ſpielte im Surrey-Theater bei vollem Hauſe 5—6 ſehr ver- ſchiedene Rollen mit einer Laune, ſcheinbaren Büh- nenerfahrung, Aplomb, Volubilität der Sprache, treuem Gedächtniß, und gelenkiger Gewandtheit ſei- ner kleinen Perſon, die in Erſtaunen ſetzen. Was mich aber am meiſten frappirte, war, daß er in ei- nem Vorſpiel ſeine natürliche Rolle, nämlich die ei- nes Jungens von 10 Jahrer., ebenfalls mit ſo un- gemeiner Wahrheit gab, daß dieſe ächte Naivität dar- geſtellter Kindlichkeit, nur Inſpiration des Genies, ohnmöglich Reſultat der Reflection bei einem ſolchen Knaben ſeyn konnte. Er begann die nachfolgenden Charaktere mit der Rolle eines italieniſchen Muſik-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/301
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/301>, abgerufen am 24.11.2024.