Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

so erschien sie als das erregendste Ideal weiblicher
Schönheit.

Ich war im Anschauen verloren -- da, o Himmel!
glaubte ich die dunkeln Augen sich öffnen, und mich
freundlich anblicken zu sehen -- die Sinne vergien-
gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich
erst.

Guten Morgen oder guten Abend also, comme il
vous plaira.



Du bist wohl aus meinem letzten Gemälde nicht
recht klug geworden. Es ist ein Räthsel, und bis
du es erräthst, laß uns von etwas anderm sprechen.

Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunst
Abgespiegelte allein reines Wohlgefallen, während
alles Wirkliche immer wenigstens eine mangelhafte
Seite hat? Wir sehen die Qual des Laocoon in Mar-
mor mit ungestörtem Genuß, während die Scene in
der Natur uns nur Grausen erregen würde. Ein
Fischmarkt in Holland vom launigen Künstler mit
täuschender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un-
ser Vergnügen vermehrt sich, je mehr wir das Detail
verfolgen -- am wirklichen aber gehen wir schleu-
nig mit abgewandten Augen und Nase vorüber. Lei-
den und Freuden des Helden, den der Dichter schil-
dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen,
während an uns und andern die wahren Leiden
schmerzen, die wahren Freuden immer noch viel zu

ſo erſchien ſie als das erregendſte Ideal weiblicher
Schönheit.

Ich war im Anſchauen verloren — da, o Himmel!
glaubte ich die dunkeln Augen ſich öffnen, und mich
freundlich anblicken zu ſehen — die Sinne vergien-
gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich
erſt.

Guten Morgen oder guten Abend alſo, comme il
vous plaira.



Du biſt wohl aus meinem letzten Gemälde nicht
recht klug geworden. Es iſt ein Räthſel, und bis
du es erräthſt, laß uns von etwas anderm ſprechen.

Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunſt
Abgeſpiegelte allein reines Wohlgefallen, während
alles Wirkliche immer wenigſtens eine mangelhafte
Seite hat? Wir ſehen die Qual des Laocoon in Mar-
mor mit ungeſtörtem Genuß, während die Scene in
der Natur uns nur Grauſen erregen würde. Ein
Fiſchmarkt in Holland vom launigen Künſtler mit
täuſchender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un-
ſer Vergnügen vermehrt ſich, je mehr wir das Detail
verfolgen — am wirklichen aber gehen wir ſchleu-
nig mit abgewandten Augen und Naſe vorüber. Lei-
den und Freuden des Helden, den der Dichter ſchil-
dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen,
während an uns und andern die wahren Leiden
ſchmerzen, die wahren Freuden immer noch viel zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0458" n="412"/>
&#x017F;o er&#x017F;chien &#x017F;ie als das erregend&#x017F;te Ideal weiblicher<lb/>
Schönheit.</p><lb/>
          <p>Ich war im An&#x017F;chauen verloren &#x2014; da, o Himmel!<lb/>
glaubte ich die dunkeln Augen &#x017F;ich öffnen, und mich<lb/>
freundlich anblicken zu &#x017F;ehen &#x2014; die Sinne vergien-<lb/>
gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich<lb/>
er&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Guten Morgen oder guten Abend al&#x017F;o, <hi rendition="#aq">comme il<lb/>
vous plaira.</hi></p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <opener>
            <dateline> <hi rendition="#et">Den 6ten.</hi> </dateline>
          </opener><lb/>
          <p>Du bi&#x017F;t wohl aus meinem letzten Gemälde nicht<lb/>
recht klug geworden. Es i&#x017F;t ein Räth&#x017F;el, und bis<lb/>
du es erräth&#x017F;t, laß uns von etwas anderm &#x017F;prechen.</p><lb/>
          <p>Sage mir, warum erweckt alles durch die Kun&#x017F;t<lb/>
Abge&#x017F;piegelte allein <hi rendition="#g">reines</hi> Wohlgefallen, während<lb/>
alles Wirkliche immer wenig&#x017F;tens eine mangelhafte<lb/>
Seite hat? Wir &#x017F;ehen die Qual des Laocoon in Mar-<lb/>
mor mit unge&#x017F;törtem Genuß, während die Scene in<lb/>
der Natur uns nur Grau&#x017F;en erregen würde. Ein<lb/>
Fi&#x017F;chmarkt in Holland vom launigen Kün&#x017F;tler mit<lb/>
täu&#x017F;chender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un-<lb/>
&#x017F;er Vergnügen vermehrt &#x017F;ich, je mehr wir das Detail<lb/>
verfolgen &#x2014; am <hi rendition="#g">wirklichen</hi> aber gehen wir &#x017F;chleu-<lb/>
nig mit abgewandten Augen und Na&#x017F;e vorüber. Lei-<lb/>
den und Freuden des Helden, den der Dichter &#x017F;chil-<lb/>
dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen,<lb/>
während an uns und andern die <hi rendition="#g">wahren</hi> Leiden<lb/>
&#x017F;chmerzen, die <hi rendition="#g">wahren</hi> Freuden immer noch viel zu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0458] ſo erſchien ſie als das erregendſte Ideal weiblicher Schönheit. Ich war im Anſchauen verloren — da, o Himmel! glaubte ich die dunkeln Augen ſich öffnen, und mich freundlich anblicken zu ſehen — die Sinne vergien- gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich erſt. Guten Morgen oder guten Abend alſo, comme il vous plaira. Den 6ten. Du biſt wohl aus meinem letzten Gemälde nicht recht klug geworden. Es iſt ein Räthſel, und bis du es erräthſt, laß uns von etwas anderm ſprechen. Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunſt Abgeſpiegelte allein reines Wohlgefallen, während alles Wirkliche immer wenigſtens eine mangelhafte Seite hat? Wir ſehen die Qual des Laocoon in Mar- mor mit ungeſtörtem Genuß, während die Scene in der Natur uns nur Grauſen erregen würde. Ein Fiſchmarkt in Holland vom launigen Künſtler mit täuſchender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un- ſer Vergnügen vermehrt ſich, je mehr wir das Detail verfolgen — am wirklichen aber gehen wir ſchleu- nig mit abgewandten Augen und Naſe vorüber. Lei- den und Freuden des Helden, den der Dichter ſchil- dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen, während an uns und andern die wahren Leiden ſchmerzen, die wahren Freuden immer noch viel zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/458
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/458>, abgerufen am 22.12.2024.