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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die mittelländische Race.
entstehen, denn von dort liessen sich beide Becken des Mittel-
meeres um so strenger beherrschen, als in früheren Zeiten der
Schiffer aus Verzagtheit nie das Gestade aus dem Gesicht zu ver-
lieren wagte. Dort an jener Stelle erstand, wuchs und fiel Car-
thago. Die andere Meerenge führt ihren heutigen Namen vom
Dschebel-Tarik, dem Tarikfelsen, weil Tarik dort mit den Arabern
aus Afrika nach Spanien übersetzte, ein Unternehmen, das bei den
damaligen schwachen Leistungen der Schifffahrt nie versucht worden
wäre, wenn nicht eine Enge, sondern ein geräumiger Meeresarm die
beiden Festlande getrennt hätte. Mit den Arabern aber kam da-
mals das reifere Wissen morgenländischer Völker, ja zum Theil
auch von neuem die verschollene Gelehrsamkeit des griechischen
Alterthums nach Europa. An die dritte Meerenge knüpft sich die
Jahreszahl 1453, der Fall von Konstantinopel, der durch eine
wundersame Fügung zum Segen uns ausschlagen sollte, denn, von
den Osmanen verscheucht, brachten Byzantiner nicht blos längst
vermisste literarische Schätze der hellenischen Blüthezeit in das
mittelalterliche Europa, sondern es wurde auch durch sie die
griechische Sprache ein Gemeingut der Gelehrten und aus diesem
Quell strömte das neue Licht des 16. Jahrhunderts. Noch
jetzt drohen diese Meerengen den Bewohnern Europa's mit neuen
Prüfungen. Im Hintergrunde der modernen Begebenheiten ist ein
ziemlich hochbegabtes Volk zum russischen Reich erstarkt und
möchte sich vorwärts drängen nach dem offenen Weltmeer. Seine
Ufer liegen aber nur an zwei Binnenmeeren, die sich mit Kammern
vergleichen lassen, zu denen andere Völker die Schlüssel besitzen.
Im Winter gefriert die Ostsee und Schweden wird dann fest mit
den dänischen Inseln, so dass die Schifffahrt eingestellt bleibt. Der
Pontus dagegen fliesst durch ein doppeltes so enges Thal ab, dass
sich jede Stelle unter ein Kreuzfeuer von Artillerie bringen lässt.
Jedes Volk von gleichem Wuchse wie die Russen würde nach
einem offeneren Meere sich vorzuarbeiten suchen, und darum, so oft
der Gefangene ungeduldig am Gitter seines geographischen Kerkers
rüttelt, wird es den westlichen Völkern um ihren Frieden bange.

Wegen seines Gliederreichthums besitzt unser Welttheil die
grösste Küstenlänge im Vergleich zu seiner Oberfläche. Nun ver-
dichtet sich, wie die neue schöne Karte von E. Behm1) über die Ver-

1) Ergänzungsheft Nr. 35. Taf. 2. zu Petermann's Mittheilungen.
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Die mittelländische Race.
entstehen, denn von dort liessen sich beide Becken des Mittel-
meeres um so strenger beherrschen, als in früheren Zeiten der
Schiffer aus Verzagtheit nie das Gestade aus dem Gesicht zu ver-
lieren wagte. Dort an jener Stelle erstand, wuchs und fiel Car-
thago. Die andere Meerenge führt ihren heutigen Namen vom
Dschebel-Tarik, dem Tarikfelsen, weil Tarik dort mit den Arabern
aus Afrika nach Spanien übersetzte, ein Unternehmen, das bei den
damaligen schwachen Leistungen der Schifffahrt nie versucht worden
wäre, wenn nicht eine Enge, sondern ein geräumiger Meeresarm die
beiden Festlande getrennt hätte. Mit den Arabern aber kam da-
mals das reifere Wissen morgenländischer Völker, ja zum Theil
auch von neuem die verschollene Gelehrsamkeit des griechischen
Alterthums nach Europa. An die dritte Meerenge knüpft sich die
Jahreszahl 1453, der Fall von Konstantinopel, der durch eine
wundersame Fügung zum Segen uns ausschlagen sollte, denn, von
den Osmanen verscheucht, brachten Byzantiner nicht blos längst
vermisste literarische Schätze der hellenischen Blüthezeit in das
mittelalterliche Europa, sondern es wurde auch durch sie die
griechische Sprache ein Gemeingut der Gelehrten und aus diesem
Quell strömte das neue Licht des 16. Jahrhunderts. Noch
jetzt drohen diese Meerengen den Bewohnern Europa’s mit neuen
Prüfungen. Im Hintergrunde der modernen Begebenheiten ist ein
ziemlich hochbegabtes Volk zum russischen Reich erstarkt und
möchte sich vorwärts drängen nach dem offenen Weltmeer. Seine
Ufer liegen aber nur an zwei Binnenmeeren, die sich mit Kammern
vergleichen lassen, zu denen andere Völker die Schlüssel besitzen.
Im Winter gefriert die Ostsee und Schweden wird dann fest mit
den dänischen Inseln, so dass die Schifffahrt eingestellt bleibt. Der
Pontus dagegen fliesst durch ein doppeltes so enges Thal ab, dass
sich jede Stelle unter ein Kreuzfeuer von Artillerie bringen lässt.
Jedes Volk von gleichem Wuchse wie die Russen würde nach
einem offeneren Meere sich vorzuarbeiten suchen, und darum, so oft
der Gefangene ungeduldig am Gitter seines geographischen Kerkers
rüttelt, wird es den westlichen Völkern um ihren Frieden bange.

Wegen seines Gliederreichthums besitzt unser Welttheil die
grösste Küstenlänge im Vergleich zu seiner Oberfläche. Nun ver-
dichtet sich, wie die neue schöne Karte von E. Behm1) über die Ver-

1) Ergänzungsheft Nr. 35. Taf. 2. zu Petermann’s Mittheilungen.
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[547/0565] Die mittelländische Race. entstehen, denn von dort liessen sich beide Becken des Mittel- meeres um so strenger beherrschen, als in früheren Zeiten der Schiffer aus Verzagtheit nie das Gestade aus dem Gesicht zu ver- lieren wagte. Dort an jener Stelle erstand, wuchs und fiel Car- thago. Die andere Meerenge führt ihren heutigen Namen vom Dschebel-Tarik, dem Tarikfelsen, weil Tarik dort mit den Arabern aus Afrika nach Spanien übersetzte, ein Unternehmen, das bei den damaligen schwachen Leistungen der Schifffahrt nie versucht worden wäre, wenn nicht eine Enge, sondern ein geräumiger Meeresarm die beiden Festlande getrennt hätte. Mit den Arabern aber kam da- mals das reifere Wissen morgenländischer Völker, ja zum Theil auch von neuem die verschollene Gelehrsamkeit des griechischen Alterthums nach Europa. An die dritte Meerenge knüpft sich die Jahreszahl 1453, der Fall von Konstantinopel, der durch eine wundersame Fügung zum Segen uns ausschlagen sollte, denn, von den Osmanen verscheucht, brachten Byzantiner nicht blos längst vermisste literarische Schätze der hellenischen Blüthezeit in das mittelalterliche Europa, sondern es wurde auch durch sie die griechische Sprache ein Gemeingut der Gelehrten und aus diesem Quell strömte das neue Licht des 16. Jahrhunderts. Noch jetzt drohen diese Meerengen den Bewohnern Europa’s mit neuen Prüfungen. Im Hintergrunde der modernen Begebenheiten ist ein ziemlich hochbegabtes Volk zum russischen Reich erstarkt und möchte sich vorwärts drängen nach dem offenen Weltmeer. Seine Ufer liegen aber nur an zwei Binnenmeeren, die sich mit Kammern vergleichen lassen, zu denen andere Völker die Schlüssel besitzen. Im Winter gefriert die Ostsee und Schweden wird dann fest mit den dänischen Inseln, so dass die Schifffahrt eingestellt bleibt. Der Pontus dagegen fliesst durch ein doppeltes so enges Thal ab, dass sich jede Stelle unter ein Kreuzfeuer von Artillerie bringen lässt. Jedes Volk von gleichem Wuchse wie die Russen würde nach einem offeneren Meere sich vorzuarbeiten suchen, und darum, so oft der Gefangene ungeduldig am Gitter seines geographischen Kerkers rüttelt, wird es den westlichen Völkern um ihren Frieden bange. Wegen seines Gliederreichthums besitzt unser Welttheil die grösste Küstenlänge im Vergleich zu seiner Oberfläche. Nun ver- dichtet sich, wie die neue schöne Karte von E. Behm 1) über die Ver- 1) Ergänzungsheft Nr. 35. Taf. 2. zu Petermann’s Mittheilungen. 35*

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/565>, abgerufen am 26.04.2024.