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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die dualistischen Religionen.
Namen Koyan ihre Opfer bringen 1). Auch von einer Anzahl
Indianerstämme des Orinocogebietes, welche einen bösen Geist
annahmen und ihn verschieden benannten, versichert der P. Gu-
milla 2), dass sie ihm keine Verehrung gezollt hätten.

Wenn auch geistig unreife Menschenstämme die Gesinnung
der unsichtbaren Mächte als gut oder bös bezeichnen, so unter-
scheiden sie damit doch nicht das Sittliche und Unsittliche. Das
Gute und das Böse ist vorläufig nichts weiter, als das Erfreuliche
und das Widerwärtige. Zur Genüge bekannt ist wohl die Antwort
des Buschmann, der dem fragenden christlichen Glaubensboten
als Beispiel einer bösen That bezeichnete, dass ein anderer
ihm sein Weib raube, und als Beispiel einer guten, wenn er selbst
das Weib eines Andern sich gewaltsam aneigne 3). Als ein ge-
selliges Geschöpf aber erkennt und begreift der Mensch sehr früh
und später immer schärfer, dass das Zusammenleben ihm Pflichten
gegen seinen Nächsten auferlege. Auf der untersten Stufe schon
wird die Verletzung der socialen Gebote als eine Versündigung
angesehen. Die Vorschriften der geselligen Geschöpfe sind aber
enthalten in den Sitten der Horde, des Stammes oder des Volkes.
Die Ausübung der Blutrache ist daher überall dort, wo sie noch
nicht durch bessere Einrichtungen ersetzt worden ist, gewiss eine
sittliche That. Die brasilianischen Tupinamba hoffen, dass die
Tugendhaften zu ihren Vätern in den glücklichen Gärten des Jen-
seits versammelt werden. Unter Tugend aber verstehen sie, tapfer
das Eigenthum der Horde zu vertheidigen, viele Feinde zu er-
legen und die Erschlagenen canibalisch zu verzehren 4). Ihre
höchste Vollendung empfangen erst die Sittengebote, wenn sie
sich über die gesammte Menschheit erstrecken und auch an frem-
den Völkern die Menschenrechte geachtet und gegen sie Men-
schenpflichten erfüllt werden. Auf allen nahen oder entfernten
Strecken zu diesem im Christenthum erkannten, aber in der christ-
lichen Welt noch unerreichten Ziele, begegnet dem Menschen die
Versuchung, seinen Genuss und Vortheil höher zu schätzen,

1) Dumont d'Urville, Voyage de l' Astrolabe. tom. I, p. 464.
2) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3. p. 308.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 376.
4) Lery bei Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 86.

Die dualistischen Religionen.
Namen Koyan ihre Opfer bringen 1). Auch von einer Anzahl
Indianerstämme des Orinocogebietes, welche einen bösen Geist
annahmen und ihn verschieden benannten, versichert der P. Gu-
milla 2), dass sie ihm keine Verehrung gezollt hätten.

Wenn auch geistig unreife Menschenstämme die Gesinnung
der unsichtbaren Mächte als gut oder bös bezeichnen, so unter-
scheiden sie damit doch nicht das Sittliche und Unsittliche. Das
Gute und das Böse ist vorläufig nichts weiter, als das Erfreuliche
und das Widerwärtige. Zur Genüge bekannt ist wohl die Antwort
des Buschmann, der dem fragenden christlichen Glaubensboten
als Beispiel einer bösen That bezeichnete, dass ein anderer
ihm sein Weib raube, und als Beispiel einer guten, wenn er selbst
das Weib eines Andern sich gewaltsam aneigne 3). Als ein ge-
selliges Geschöpf aber erkennt und begreift der Mensch sehr früh
und später immer schärfer, dass das Zusammenleben ihm Pflichten
gegen seinen Nächsten auferlege. Auf der untersten Stufe schon
wird die Verletzung der socialen Gebote als eine Versündigung
angesehen. Die Vorschriften der geselligen Geschöpfe sind aber
enthalten in den Sitten der Horde, des Stammes oder des Volkes.
Die Ausübung der Blutrache ist daher überall dort, wo sie noch
nicht durch bessere Einrichtungen ersetzt worden ist, gewiss eine
sittliche That. Die brasilianischen Tupinamba hoffen, dass die
Tugendhaften zu ihren Vätern in den glücklichen Gärten des Jen-
seits versammelt werden. Unter Tugend aber verstehen sie, tapfer
das Eigenthum der Horde zu vertheidigen, viele Feinde zu er-
legen und die Erschlagenen canibalisch zu verzehren 4). Ihre
höchste Vollendung empfangen erst die Sittengebote, wenn sie
sich über die gesammte Menschheit erstrecken und auch an frem-
den Völkern die Menschenrechte geachtet und gegen sie Men-
schenpflichten erfüllt werden. Auf allen nahen oder entfernten
Strecken zu diesem im Christenthum erkannten, aber in der christ-
lichen Welt noch unerreichten Ziele, begegnet dem Menschen die
Versuchung, seinen Genuss und Vortheil höher zu schätzen,

1) Dumont d’Urville, Voyage de l’ Astrolabe. tom. I, p. 464.
2) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3. p. 308.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 376.
4) Lery bei Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 86.
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[294/0312] Die dualistischen Religionen. Namen Koyan ihre Opfer bringen 1). Auch von einer Anzahl Indianerstämme des Orinocogebietes, welche einen bösen Geist annahmen und ihn verschieden benannten, versichert der P. Gu- milla 2), dass sie ihm keine Verehrung gezollt hätten. Wenn auch geistig unreife Menschenstämme die Gesinnung der unsichtbaren Mächte als gut oder bös bezeichnen, so unter- scheiden sie damit doch nicht das Sittliche und Unsittliche. Das Gute und das Böse ist vorläufig nichts weiter, als das Erfreuliche und das Widerwärtige. Zur Genüge bekannt ist wohl die Antwort des Buschmann, der dem fragenden christlichen Glaubensboten als Beispiel einer bösen That bezeichnete, dass ein anderer ihm sein Weib raube, und als Beispiel einer guten, wenn er selbst das Weib eines Andern sich gewaltsam aneigne 3). Als ein ge- selliges Geschöpf aber erkennt und begreift der Mensch sehr früh und später immer schärfer, dass das Zusammenleben ihm Pflichten gegen seinen Nächsten auferlege. Auf der untersten Stufe schon wird die Verletzung der socialen Gebote als eine Versündigung angesehen. Die Vorschriften der geselligen Geschöpfe sind aber enthalten in den Sitten der Horde, des Stammes oder des Volkes. Die Ausübung der Blutrache ist daher überall dort, wo sie noch nicht durch bessere Einrichtungen ersetzt worden ist, gewiss eine sittliche That. Die brasilianischen Tupinamba hoffen, dass die Tugendhaften zu ihren Vätern in den glücklichen Gärten des Jen- seits versammelt werden. Unter Tugend aber verstehen sie, tapfer das Eigenthum der Horde zu vertheidigen, viele Feinde zu er- legen und die Erschlagenen canibalisch zu verzehren 4). Ihre höchste Vollendung empfangen erst die Sittengebote, wenn sie sich über die gesammte Menschheit erstrecken und auch an frem- den Völkern die Menschenrechte geachtet und gegen sie Men- schenpflichten erfüllt werden. Auf allen nahen oder entfernten Strecken zu diesem im Christenthum erkannten, aber in der christ- lichen Welt noch unerreichten Ziele, begegnet dem Menschen die Versuchung, seinen Genuss und Vortheil höher zu schätzen, 1) Dumont d’Urville, Voyage de l’ Astrolabe. tom. I, p. 464. 2) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3. p. 308. 3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 376. 4) Lery bei Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 86.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/312>, abgerufen am 27.04.2024.