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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Schamanismus.
Hofschamane hält einen Zaubertrank schon in Bereitschaft und
würzt ihn vor der versammelten Gemeinde damit, dass er ein
wenig von dem erbeuteten Kleinode hineinschabt. Sobald aber
der Häuptling den Trank ausgeleert hat, besitzt er unfehlbare
Macht über seinen Gegner. Wir verstehen daher, warum jeder
Kafir-König, so oft er eine neue Hütte bezieht, die alte sorgfältig
ausfegen lässt; ist doch sogar, wie Theophilus Hahn erzählt,
schon der Fall vorgekommen, dass ein ganzer Kraal (Ort) nieder-
gebrannt wurde, nur damit die Feinde sich nicht irgendeines
Hausgeräthes zur Verübung eines Zaubers bemächtigen sollten 1).

Verweilen wir noch ein wenig bei dieser gewiss seltsamen
Uebereinstimmung solcher Truggebilde. Wir könnten sie viel-
leicht erklären, wenn wir uns vorstellen, dass papuanische und ka-
firische Menschenstämme einst eine gemeinsame Heimat bewohnt
und dann durch fortgesetzte Wanderungen sich von einander ent-
fernt hätten. Es würde uns aber diese Annahme in Zeiträume
zurückversetzen, die nach Jahrtausenden gezählt werden müssen,
denn die Racenunterschiede zwischen diesen Stämmen gehen sehr
tief und solche Aenderungen erfolgen nur mit einer Langsamkeit,
wie sie etwa bei geologischen Vorgängen beobachtet wird. Auch
darf man sich nicht damit beruhigen, dass nur das ungeschärfte
Denken der sogenannten wilden Völker solchen Verirrungen
unterliege. Wie lange ist es her, dass nicht unter uns selbst der
Aberglaube in Blüthe stand, man solle abgeschnittene Nägel und
Haare sorgfältig vernichten? Eine italienische Gelehrte, Caroline
Coronedi, hat erst kürzlich gezeigt, dass in Bologna noch heutigen
Tages die ausgekämmten Haare sorgfältig verbrannt werden, weil
sich an ihnen Hexenkünste am leichtesten verüben lassen 2).
Tylor schenkt sogar einer Nachricht vollen Glauben, dass noch
1860 zu Camargo in Mexico eine Hexe verbrannt worden sei 3).
Fast überfällt uns bei diesen übereinstimmenden Verstandesirrungen
die trostlose Vorstellung, als sei das menschliche Denkvermögen
ein Mechanismus, der bei der Einwirkung gleicher Reize immer
zu den gleichen Rösselsprüngen genöthigt werde.

1) Theophilus Hahn im Globus 1871. Bd. XX. No. 1[ - 1 Zeichen fehlt].
2) Ida v. Düringsfeld im Ausland 1872. No. 24. S. 572.
3) Anfänge der Cultur, Bd. 1. S. 138.

Der Schamanismus.
Hofschamane hält einen Zaubertrank schon in Bereitschaft und
würzt ihn vor der versammelten Gemeinde damit, dass er ein
wenig von dem erbeuteten Kleinode hineinschabt. Sobald aber
der Häuptling den Trank ausgeleert hat, besitzt er unfehlbare
Macht über seinen Gegner. Wir verstehen daher, warum jeder
Kafir-König, so oft er eine neue Hütte bezieht, die alte sorgfältig
ausfegen lässt; ist doch sogar, wie Theophilus Hahn erzählt,
schon der Fall vorgekommen, dass ein ganzer Kraal (Ort) nieder-
gebrannt wurde, nur damit die Feinde sich nicht irgendeines
Hausgeräthes zur Verübung eines Zaubers bemächtigen sollten 1).

Verweilen wir noch ein wenig bei dieser gewiss seltsamen
Uebereinstimmung solcher Truggebilde. Wir könnten sie viel-
leicht erklären, wenn wir uns vorstellen, dass papuanische und ka-
firische Menschenstämme einst eine gemeinsame Heimat bewohnt
und dann durch fortgesetzte Wanderungen sich von einander ent-
fernt hätten. Es würde uns aber diese Annahme in Zeiträume
zurückversetzen, die nach Jahrtausenden gezählt werden müssen,
denn die Racenunterschiede zwischen diesen Stämmen gehen sehr
tief und solche Aenderungen erfolgen nur mit einer Langsamkeit,
wie sie etwa bei geologischen Vorgängen beobachtet wird. Auch
darf man sich nicht damit beruhigen, dass nur das ungeschärfte
Denken der sogenannten wilden Völker solchen Verirrungen
unterliege. Wie lange ist es her, dass nicht unter uns selbst der
Aberglaube in Blüthe stand, man solle abgeschnittene Nägel und
Haare sorgfältig vernichten? Eine italienische Gelehrte, Caroline
Coronedi, hat erst kürzlich gezeigt, dass in Bologna noch heutigen
Tages die ausgekämmten Haare sorgfältig verbrannt werden, weil
sich an ihnen Hexenkünste am leichtesten verüben lassen 2).
Tylor schenkt sogar einer Nachricht vollen Glauben, dass noch
1860 zu Camargo in Mexico eine Hexe verbrannt worden sei 3).
Fast überfällt uns bei diesen übereinstimmenden Verstandesirrungen
die trostlose Vorstellung, als sei das menschliche Denkvermögen
ein Mechanismus, der bei der Einwirkung gleicher Reize immer
zu den gleichen Rösselsprüngen genöthigt werde.

1) Theophilus Hahn im Globus 1871. Bd. XX. No. 1[ – 1 Zeichen fehlt].
2) Ida v. Düringsfeld im Ausland 1872. No. 24. S. 572.
3) Anfänge der Cultur, Bd. 1. S. 138.
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[278/0296] Der Schamanismus. Hofschamane hält einen Zaubertrank schon in Bereitschaft und würzt ihn vor der versammelten Gemeinde damit, dass er ein wenig von dem erbeuteten Kleinode hineinschabt. Sobald aber der Häuptling den Trank ausgeleert hat, besitzt er unfehlbare Macht über seinen Gegner. Wir verstehen daher, warum jeder Kafir-König, so oft er eine neue Hütte bezieht, die alte sorgfältig ausfegen lässt; ist doch sogar, wie Theophilus Hahn erzählt, schon der Fall vorgekommen, dass ein ganzer Kraal (Ort) nieder- gebrannt wurde, nur damit die Feinde sich nicht irgendeines Hausgeräthes zur Verübung eines Zaubers bemächtigen sollten 1). Verweilen wir noch ein wenig bei dieser gewiss seltsamen Uebereinstimmung solcher Truggebilde. Wir könnten sie viel- leicht erklären, wenn wir uns vorstellen, dass papuanische und ka- firische Menschenstämme einst eine gemeinsame Heimat bewohnt und dann durch fortgesetzte Wanderungen sich von einander ent- fernt hätten. Es würde uns aber diese Annahme in Zeiträume zurückversetzen, die nach Jahrtausenden gezählt werden müssen, denn die Racenunterschiede zwischen diesen Stämmen gehen sehr tief und solche Aenderungen erfolgen nur mit einer Langsamkeit, wie sie etwa bei geologischen Vorgängen beobachtet wird. Auch darf man sich nicht damit beruhigen, dass nur das ungeschärfte Denken der sogenannten wilden Völker solchen Verirrungen unterliege. Wie lange ist es her, dass nicht unter uns selbst der Aberglaube in Blüthe stand, man solle abgeschnittene Nägel und Haare sorgfältig vernichten? Eine italienische Gelehrte, Caroline Coronedi, hat erst kürzlich gezeigt, dass in Bologna noch heutigen Tages die ausgekämmten Haare sorgfältig verbrannt werden, weil sich an ihnen Hexenkünste am leichtesten verüben lassen 2). Tylor schenkt sogar einer Nachricht vollen Glauben, dass noch 1860 zu Camargo in Mexico eine Hexe verbrannt worden sei 3). Fast überfällt uns bei diesen übereinstimmenden Verstandesirrungen die trostlose Vorstellung, als sei das menschliche Denkvermögen ein Mechanismus, der bei der Einwirkung gleicher Reize immer zu den gleichen Rösselsprüngen genöthigt werde. 1) Theophilus Hahn im Globus 1871. Bd. XX. No. 1_. 2) Ida v. Düringsfeld im Ausland 1872. No. 24. S. 572. 3) Anfänge der Cultur, Bd. 1. S. 138.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/296>, abgerufen am 26.04.2024.