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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
die erste Kunde von ihren südlichen Nachbarn am Uelle, den hell-
farbigen Monbuttu, nach Europa gebracht, deren Halbcultur neben
den Urzuständen der Nilbevölkerungen auf das höchste überraschen
muss und über deren Canibalenthum kein Zweifel übrig bleibt. Es
bestätigte sich auch bei ihnen eine alte Erfahrung, dass nämlich
der Genuss von Hundefleisch der erste Schritt zur Anthropophagie
und ihr Begleiter zu sein pflege 1). Dass selbst Europäer in unserm
Jahrhundert vor Menschenfleisch nicht zurückschauderten, behauptet
H. Schaaffhausen 2), dem wir freilich überlassen müssen, die
Glaubwürdigkeit seiner Quelle zu vertreten. Bei der letzten Be-
lagerung von Messina soll nämlich das Fleisch der gefangenen
Soldaten auf der Giudecca verkauft worden sein und zwar das der
Schweizer um einen höheren Preis als das der Neapolitaner.

Aus der Summe dieser Thatsachen ergibt sich, dass mit Aus-
nahme der Papuanen und Polynesier die Anthropophagie nicht
über ganze Völkergruppen verbreitet ist, sondern nur sehr verein-
zelt in Afrika und in Amerika auftritt, in Asien beinahe gänzlich
fehlt, in Europa einer unsichern Vorzeit angehört. Die Ansicht,
dass alle menschlichen Gesellschaften auf ihren roheren Stufen
dieses Laster einmal gekannt und überwunden haben sollten, lässt
sich daher nicht streng begründen, zumal neuerdings erkannt worden
ist, dass die Sagen von Menschenfressern sich von einem Volke
zum andern mit grosser Leichtigkeit verbreitet haben, so dass ihr
örtliches Vorkommen durchaus nicht eine Anthropophagie in der
Vorzeit andeutet. Auch wurde früher mit unberechtigter Hast
vorausgesetzt, dass, wo Menschenopfer im Gebrauche waren, ehe-
mals auch Menschenfleisch verzehrt worden sei, als habe man auf
die Altäre der Götter nur dasjenige gesteuert, dessen Genuss auch
den Darbringern schätzbar erschien. Mit den zahlreichen Menschen-
opfern in Khondistan war jedoch niemals Anthropophagie verknüpft. Sie
fielen der göttlich gedachten Erde, um die Gunst ergiebiger Ernten
zu gewinnen, wie man aus Campbell's ausführlichen Schilderungen
sich überzeugen kann. Die Opfer von Frauen und Hausgesinde
auf den Gräbern Verstorbener haben ebenfalls keinen Zusammen-
hang mit anthropophagen Gewohnheiten. So beruht die Ada oder
"grosse Sitte" in Dahome ebenfalls auf dem Unsterblichkeitsglauben.

1) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 10.
2) Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1870. Bd. 4. S. 247.

Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
die erste Kunde von ihren südlichen Nachbarn am Uëlle, den hell-
farbigen Monbuttu, nach Europa gebracht, deren Halbcultur neben
den Urzuständen der Nilbevölkerungen auf das höchste überraschen
muss und über deren Canibalenthum kein Zweifel übrig bleibt. Es
bestätigte sich auch bei ihnen eine alte Erfahrung, dass nämlich
der Genuss von Hundefleisch der erste Schritt zur Anthropophagie
und ihr Begleiter zu sein pflege 1). Dass selbst Europäer in unserm
Jahrhundert vor Menschenfleisch nicht zurückschauderten, behauptet
H. Schaaffhausen 2), dem wir freilich überlassen müssen, die
Glaubwürdigkeit seiner Quelle zu vertreten. Bei der letzten Be-
lagerung von Messina soll nämlich das Fleisch der gefangenen
Soldaten auf der Giudecca verkauft worden sein und zwar das der
Schweizer um einen höheren Preis als das der Neapolitaner.

Aus der Summe dieser Thatsachen ergibt sich, dass mit Aus-
nahme der Papuanen und Polynesier die Anthropophagie nicht
über ganze Völkergruppen verbreitet ist, sondern nur sehr verein-
zelt in Afrika und in Amerika auftritt, in Asien beinahe gänzlich
fehlt, in Europa einer unsichern Vorzeit angehört. Die Ansicht,
dass alle menschlichen Gesellschaften auf ihren roheren Stufen
dieses Laster einmal gekannt und überwunden haben sollten, lässt
sich daher nicht streng begründen, zumal neuerdings erkannt worden
ist, dass die Sagen von Menschenfressern sich von einem Volke
zum andern mit grosser Leichtigkeit verbreitet haben, so dass ihr
örtliches Vorkommen durchaus nicht eine Anthropophagie in der
Vorzeit andeutet. Auch wurde früher mit unberechtigter Hast
vorausgesetzt, dass, wo Menschenopfer im Gebrauche waren, ehe-
mals auch Menschenfleisch verzehrt worden sei, als habe man auf
die Altäre der Götter nur dasjenige gesteuert, dessen Genuss auch
den Darbringern schätzbar erschien. Mit den zahlreichen Menschen-
opfern in Khondistan war jedoch niemals Anthropophagie verknüpft. Sie
fielen der göttlich gedachten Erde, um die Gunst ergiebiger Ernten
zu gewinnen, wie man aus Campbell’s ausführlichen Schilderungen
sich überzeugen kann. Die Opfer von Frauen und Hausgesinde
auf den Gräbern Verstorbener haben ebenfalls keinen Zusammen-
hang mit anthropophagen Gewohnheiten. So beruht die Ada oder
„grosse Sitte“ in Dahome ebenfalls auf dem Unsterblichkeitsglauben.

1) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 10.
2) Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1870. Bd. 4. S. 247.
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[168/0186] Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. die erste Kunde von ihren südlichen Nachbarn am Uëlle, den hell- farbigen Monbuttu, nach Europa gebracht, deren Halbcultur neben den Urzuständen der Nilbevölkerungen auf das höchste überraschen muss und über deren Canibalenthum kein Zweifel übrig bleibt. Es bestätigte sich auch bei ihnen eine alte Erfahrung, dass nämlich der Genuss von Hundefleisch der erste Schritt zur Anthropophagie und ihr Begleiter zu sein pflege 1). Dass selbst Europäer in unserm Jahrhundert vor Menschenfleisch nicht zurückschauderten, behauptet H. Schaaffhausen 2), dem wir freilich überlassen müssen, die Glaubwürdigkeit seiner Quelle zu vertreten. Bei der letzten Be- lagerung von Messina soll nämlich das Fleisch der gefangenen Soldaten auf der Giudecca verkauft worden sein und zwar das der Schweizer um einen höheren Preis als das der Neapolitaner. Aus der Summe dieser Thatsachen ergibt sich, dass mit Aus- nahme der Papuanen und Polynesier die Anthropophagie nicht über ganze Völkergruppen verbreitet ist, sondern nur sehr verein- zelt in Afrika und in Amerika auftritt, in Asien beinahe gänzlich fehlt, in Europa einer unsichern Vorzeit angehört. Die Ansicht, dass alle menschlichen Gesellschaften auf ihren roheren Stufen dieses Laster einmal gekannt und überwunden haben sollten, lässt sich daher nicht streng begründen, zumal neuerdings erkannt worden ist, dass die Sagen von Menschenfressern sich von einem Volke zum andern mit grosser Leichtigkeit verbreitet haben, so dass ihr örtliches Vorkommen durchaus nicht eine Anthropophagie in der Vorzeit andeutet. Auch wurde früher mit unberechtigter Hast vorausgesetzt, dass, wo Menschenopfer im Gebrauche waren, ehe- mals auch Menschenfleisch verzehrt worden sei, als habe man auf die Altäre der Götter nur dasjenige gesteuert, dessen Genuss auch den Darbringern schätzbar erschien. Mit den zahlreichen Menschen- opfern in Khondistan war jedoch niemals Anthropophagie verknüpft. Sie fielen der göttlich gedachten Erde, um die Gunst ergiebiger Ernten zu gewinnen, wie man aus Campbell’s ausführlichen Schilderungen sich überzeugen kann. Die Opfer von Frauen und Hausgesinde auf den Gräbern Verstorbener haben ebenfalls keinen Zusammen- hang mit anthropophagen Gewohnheiten. So beruht die Ada oder „grosse Sitte“ in Dahome ebenfalls auf dem Unsterblichkeitsglauben. 1) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 10. 2) Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1870. Bd. 4. S. 247.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/186>, abgerufen am 19.03.2024.