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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Bau der menschlichen Sprache.
Gedankenaustausches befriedigt zu haben. Dennoch müssen wir das
Chinesische unter allen Sprachen der Erde auf die niedrigste Ent-
wicklungsstufe stellen. Es belastet das Gedächtniss mit dem Fest-
halten einer übergrossen Anzahl von Wurzelgruppen, denen allein
der Gebrauch ihren unabänderlichen Sinn verliehen hat und er-
schwert dadurch unnöthig den Erwerb der Sprache selbst. Unbe-
greiflich ist es daher, dass der scharfsinnige Steinthal das Chine-
sische zu seinen Formsprachen rechnen konnte, nachdem er doch
selbst eingesteht: "Berücksichtigt man allein den morphologischen
Bau, so würde die Ordnung eine andre werden müssen. Vorzüg-
lich würde das Chinesische, welches jetzt eine so hohe Stelle ein-
nimmt, an die unterste gerückt werden müssen 1)". Was würde
Steinthal von einem Zoologen halten, der die hochbegabte Ameise,
weil sie durch ihre psychischen Vorzüge weit über dem Lanzett-
fischchen steht, unter die Wirbelthiere reihen wollte? Und gleicht
er nicht selbst einem solchen Systematiker?

Bei den südlichen Nachbarn der Chinesen, den Bewohnern
von Siam und Birma finden wir ebenfalls nur einsylbige Sprachen.
Doch sind sie bereits reicher als das Chinesische an Wurzeln, die
zur Sinnbegrenzung verwendet werden. Ihr Stellungsgesetz schreibt
indessen vor, dass im Siamesischen die Hilfswurzel der Hauptwurzel
stets vorausgehe, im Birmanischen ihr folge 2). Durch die Beifügung
dieser Wurzeln werden nun Hauptwörter und Zeitworter, sowohl
solche, die in eine Thätigkeit, wie solche, die einen leidenden Zu-
stand ausdrücken, unterschieden. Wir dürfen wohl annehmen, dass,
wenn diese beiden Sprachen ungestört ihrer Entwicklung überlassen
werden, die Wortbildung bei der einen vorherrschend durch Wurzel-
vorsätze (Präfixe), bei der anderen durch Wurzelzusätze (Suffixe)
sich vollziehen würde.

An das Birmanische und Siamesische schliessen sich örtlich
die malayischen Sprachen an, die theils die sinnbegrenzenden Laut-
gruppen der Hauptwurzel vorausschicken, theils sie ihr, jedoch
minder häufig hinzufügen. Eine grosse Kluft trennt sie bereits
von den bisher geschilderten Typen, da wir bei ihnen mehrsylbigen
Wurzeln begegnen. Noch immer aber werden keinerlei Redetheile
streng unterschieden, so dass dieselbe Wurzel oder Wurzelgruppe

1) Typen des Sprachbaues. S. 328.
2) Steinthal, l. c. S. 148.

Der Bau der menschlichen Sprache.
Gedankenaustausches befriedigt zu haben. Dennoch müssen wir das
Chinesische unter allen Sprachen der Erde auf die niedrigste Ent-
wicklungsstufe stellen. Es belastet das Gedächtniss mit dem Fest-
halten einer übergrossen Anzahl von Wurzelgruppen, denen allein
der Gebrauch ihren unabänderlichen Sinn verliehen hat und er-
schwert dadurch unnöthig den Erwerb der Sprache selbst. Unbe-
greiflich ist es daher, dass der scharfsinnige Steinthal das Chine-
sische zu seinen Formsprachen rechnen konnte, nachdem er doch
selbst eingesteht: „Berücksichtigt man allein den morphologischen
Bau, so würde die Ordnung eine andre werden müssen. Vorzüg-
lich würde das Chinesische, welches jetzt eine so hohe Stelle ein-
nimmt, an die unterste gerückt werden müssen 1)“. Was würde
Steinthal von einem Zoologen halten, der die hochbegabte Ameise,
weil sie durch ihre psychischen Vorzüge weit über dem Lanzett-
fischchen steht, unter die Wirbelthiere reihen wollte? Und gleicht
er nicht selbst einem solchen Systematiker?

Bei den südlichen Nachbarn der Chinesen, den Bewohnern
von Siam und Birma finden wir ebenfalls nur einsylbige Sprachen.
Doch sind sie bereits reicher als das Chinesische an Wurzeln, die
zur Sinnbegrenzung verwendet werden. Ihr Stellungsgesetz schreibt
indessen vor, dass im Siamesischen die Hilfswurzel der Hauptwurzel
stets vorausgehe, im Birmanischen ihr folge 2). Durch die Beifügung
dieser Wurzeln werden nun Hauptwörter und Zeitworter, sowohl
solche, die in eine Thätigkeit, wie solche, die einen leidenden Zu-
stand ausdrücken, unterschieden. Wir dürfen wohl annehmen, dass,
wenn diese beiden Sprachen ungestört ihrer Entwicklung überlassen
werden, die Wortbildung bei der einen vorherrschend durch Wurzel-
vorsätze (Präfixe), bei der anderen durch Wurzelzusätze (Suffixe)
sich vollziehen würde.

An das Birmanische und Siamesische schliessen sich örtlich
die malayischen Sprachen an, die theils die sinnbegrenzenden Laut-
gruppen der Hauptwurzel vorausschicken, theils sie ihr, jedoch
minder häufig hinzufügen. Eine grosse Kluft trennt sie bereits
von den bisher geschilderten Typen, da wir bei ihnen mehrsylbigen
Wurzeln begegnen. Noch immer aber werden keinerlei Redetheile
streng unterschieden, so dass dieselbe Wurzel oder Wurzelgruppe

1) Typen des Sprachbaues. S. 328.
2) Steinthal, l. c. S. 148.
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[121/0139] Der Bau der menschlichen Sprache. Gedankenaustausches befriedigt zu haben. Dennoch müssen wir das Chinesische unter allen Sprachen der Erde auf die niedrigste Ent- wicklungsstufe stellen. Es belastet das Gedächtniss mit dem Fest- halten einer übergrossen Anzahl von Wurzelgruppen, denen allein der Gebrauch ihren unabänderlichen Sinn verliehen hat und er- schwert dadurch unnöthig den Erwerb der Sprache selbst. Unbe- greiflich ist es daher, dass der scharfsinnige Steinthal das Chine- sische zu seinen Formsprachen rechnen konnte, nachdem er doch selbst eingesteht: „Berücksichtigt man allein den morphologischen Bau, so würde die Ordnung eine andre werden müssen. Vorzüg- lich würde das Chinesische, welches jetzt eine so hohe Stelle ein- nimmt, an die unterste gerückt werden müssen 1)“. Was würde Steinthal von einem Zoologen halten, der die hochbegabte Ameise, weil sie durch ihre psychischen Vorzüge weit über dem Lanzett- fischchen steht, unter die Wirbelthiere reihen wollte? Und gleicht er nicht selbst einem solchen Systematiker? Bei den südlichen Nachbarn der Chinesen, den Bewohnern von Siam und Birma finden wir ebenfalls nur einsylbige Sprachen. Doch sind sie bereits reicher als das Chinesische an Wurzeln, die zur Sinnbegrenzung verwendet werden. Ihr Stellungsgesetz schreibt indessen vor, dass im Siamesischen die Hilfswurzel der Hauptwurzel stets vorausgehe, im Birmanischen ihr folge 2). Durch die Beifügung dieser Wurzeln werden nun Hauptwörter und Zeitworter, sowohl solche, die in eine Thätigkeit, wie solche, die einen leidenden Zu- stand ausdrücken, unterschieden. Wir dürfen wohl annehmen, dass, wenn diese beiden Sprachen ungestört ihrer Entwicklung überlassen werden, die Wortbildung bei der einen vorherrschend durch Wurzel- vorsätze (Präfixe), bei der anderen durch Wurzelzusätze (Suffixe) sich vollziehen würde. An das Birmanische und Siamesische schliessen sich örtlich die malayischen Sprachen an, die theils die sinnbegrenzenden Laut- gruppen der Hauptwurzel vorausschicken, theils sie ihr, jedoch minder häufig hinzufügen. Eine grosse Kluft trennt sie bereits von den bisher geschilderten Typen, da wir bei ihnen mehrsylbigen Wurzeln begegnen. Noch immer aber werden keinerlei Redetheile streng unterschieden, so dass dieselbe Wurzel oder Wurzelgruppe 1) Typen des Sprachbaues. S. 328. 2) Steinthal, l. c. S. 148.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/139>, abgerufen am 27.04.2024.