Am Morgen darauf waren beide Gewitter aufgelöset in ein stilles Gewölke. -- Und aus den größeren Schmerzen wurden nur Irrthümer. Wir Schwache! wenn das Schicksal uns bei unserer Scheinhinrichtung mit der Ruthe be¬ rührt, nicht mit dem Schwerte: so sinken wir ohnmächtig vom Stuhle und fühlen das Ster¬ ben noch weit ins Leben hinein! -- Alle Fie¬ ber, so auch die geistigen, kühlt der neue, fri¬ sche Morgen, so wie sie alle der bange Abend glühend schürt. Welcher von uns wickelte sich nicht an Abenden -- dieser eigentlichen Geister¬ stunde der Plage-, Haus- und Poltergeister -- in den Faden, den er selber spann, den er aber für fremdes Fanggewebe hielt, immer enger durch Entfliehen und Wenden ein, bis er am Morgen seinen Schliesser vor sich sah, nämlich sich? --
Albano sah auf dem ganzen gestrigen Kriegsschauplatz nichts mehr stehen als eine blasse, gute Gestalt in Halbtrauer, welche nach ihm mit unschuldigen Mädchenaugen umher¬ blickte, und wornach er doch ewig hinüber
70. Zykel.
Am Morgen darauf waren beide Gewitter aufgelöſet in ein ſtilles Gewölke. — Und aus den größeren Schmerzen wurden nur Irrthümer. Wir Schwache! wenn das Schickſal uns bei unſerer Scheinhinrichtung mit der Ruthe be¬ rührt, nicht mit dem Schwerte: ſo ſinken wir ohnmächtig vom Stuhle und fühlen das Ster¬ ben noch weit ins Leben hinein! — Alle Fie¬ ber, ſo auch die geiſtigen, kühlt der neue, fri¬ ſche Morgen, ſo wie ſie alle der bange Abend glühend ſchürt. Welcher von uns wickelte ſich nicht an Abenden — dieſer eigentlichen Geiſter¬ ſtunde der Plage-, Haus- und Poltergeiſter — in den Faden, den er ſelber ſpann, den er aber für fremdes Fanggewebe hielt, immer enger durch Entfliehen und Wenden ein, bis er am Morgen ſeinen Schlieſſer vor ſich ſah, nämlich ſich? —
Albano ſah auf dem ganzen geſtrigen Kriegsſchauplatz nichts mehr ſtehen als eine blaſſe, gute Geſtalt in Halbtrauer, welche nach ihm mit unſchuldigen Mädchenaugen umher¬ blickte, und wornach er doch ewig hinüber
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70. Zykel.
Am Morgen darauf waren beide Gewitter
aufgelöſet in ein ſtilles Gewölke. — Und aus
den größeren Schmerzen wurden nur Irrthümer.
Wir Schwache! wenn das Schickſal uns bei
unſerer Scheinhinrichtung mit der Ruthe be¬
rührt, nicht mit dem Schwerte: ſo ſinken wir
ohnmächtig vom Stuhle und fühlen das Ster¬
ben noch weit ins Leben hinein! — Alle Fie¬
ber, ſo auch die geiſtigen, kühlt der neue, fri¬
ſche Morgen, ſo wie ſie alle der bange Abend
glühend ſchürt. Welcher von uns wickelte ſich
nicht an Abenden — dieſer eigentlichen Geiſter¬
ſtunde der Plage-, Haus- und Poltergeiſter —
in den Faden, den er ſelber ſpann, den er aber
für fremdes Fanggewebe hielt, immer enger
durch Entfliehen und Wenden ein, bis er am
Morgen ſeinen Schlieſſer vor ſich ſah, nämlich
ſich? —
Albano ſah auf dem ganzen geſtrigen
Kriegsſchauplatz nichts mehr ſtehen als eine
blaſſe, gute Geſtalt in Halbtrauer, welche nach
ihm mit unſchuldigen Mädchenaugen umher¬
blickte, und wornach er doch ewig hinüber
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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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