Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
20. Hundsposttag.

Billet von Emanuel -- Flamins Aepfel-Kartons auf den
Schultern -- Gang nach St. Lüne.


"Armer Bastian, -- sagt' ich, da ich das heutige
"Felleisen aufmachte -- eh' ichs auf habe, weiß ich
"schon voraus, daß du den ganzen Tag nach einer
"solchen Nacht dich eingeschlossen, um dein verblute¬
"tes Angesicht gegen den Trauergarten zuzuwenden
"-- daß du heute diese brennenden Gifttropfen lie¬
"ber hast als den Wundbalsam und daß du in den
"Spiegel schauest, um mit der stillen schuldlosen Ge¬
"stalt, die er dir mit ihren Schmerzens-Schnitten
"zeigt, in neue Thränen zu zerfließen. -- O wenn
"der Mensch nichts mehr zu lieben hat, so umfasset
"er das Grabmal seiner Liebe und der Schmerz wird
"seine Geliebte. Vergebet einander den kurzen
"Wahnsinn der Klage: denn unter allen Schwächen
"des Menschen ist das die unschuldigste, wenn er,
"anstatt gleich dem Zugvogel sich über den Winter
"zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich
"andern Vögeln vor diesem Winter niedersinkt und
"dumpf in seinem kalten Grame erstarrt."

20. Hundspoſttag.

Billet von Emanuel — Flamins Aepfel-Kartons auf den
Schultern — Gang nach St. Lüne.


»Armer Baſtian, — ſagt' ich, da ich das heutige
»Felleiſen aufmachte — eh' ichs auf habe, weiß ich
»ſchon voraus, daß du den ganzen Tag nach einer
»ſolchen Nacht dich eingeſchloſſen, um dein verblute¬
»tes Angeſicht gegen den Trauergarten zuzuwenden
»— daß du heute dieſe brennenden Gifttropfen lie¬
»ber haſt als den Wundbalſam und daß du in den
»Spiegel ſchaueſt, um mit der ſtillen ſchuldloſen Ge¬
»ſtalt, die er dir mit ihren Schmerzens-Schnitten
»zeigt, in neue Thraͤnen zu zerfließen. — O wenn
»der Menſch nichts mehr zu lieben hat, ſo umfaſſet
»er das Grabmal ſeiner Liebe und der Schmerz wird
»ſeine Geliebte. Vergebet einander den kurzen
»Wahnſinn der Klage: denn unter allen Schwaͤchen
»des Menſchen iſt das die unſchuldigſte, wenn er,
»anſtatt gleich dem Zugvogel ſich uͤber den Winter
»zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich
»andern Voͤgeln vor dieſem Winter niederſinkt und
»dumpf in ſeinem kalten Grame erſtarrt.«

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0115" n="105"/>
          </div>
        </div>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">20. Hundspo&#x017F;ttag</hi>.<lb/></head>
          <argument>
            <p rendition="#c">Billet von Emanuel &#x2014; Flamins Aepfel-Kartons auf den<lb/>
Schultern &#x2014; Gang nach St. Lüne.</p>
          </argument><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>»Armer Ba&#x017F;tian, &#x2014; &#x017F;agt' ich, da ich das heutige<lb/>
»Fellei&#x017F;en aufmachte &#x2014; eh' ichs auf habe, weiß ich<lb/>
»&#x017F;chon voraus, daß du den ganzen Tag nach einer<lb/>
»&#x017F;olchen Nacht dich einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, um dein verblute¬<lb/>
»tes Ange&#x017F;icht gegen den Trauergarten zuzuwenden<lb/>
»&#x2014; daß du heute die&#x017F;e brennenden Gifttropfen lie¬<lb/>
»ber ha&#x017F;t als den Wundbal&#x017F;am und daß du in den<lb/>
»Spiegel &#x017F;chaue&#x017F;t, um mit der &#x017F;tillen &#x017F;chuldlo&#x017F;en Ge¬<lb/>
»&#x017F;talt, die er dir mit ihren Schmerzens-Schnitten<lb/>
»zeigt, in neue Thra&#x0364;nen zu zerfließen. &#x2014; O wenn<lb/>
»der Men&#x017F;ch nichts mehr zu lieben hat, &#x017F;o umfa&#x017F;&#x017F;et<lb/>
»er das Grabmal &#x017F;einer Liebe und der Schmerz wird<lb/>
»&#x017F;eine Geliebte. Vergebet einander den <hi rendition="#g">kurzen</hi><lb/>
»Wahn&#x017F;inn der Klage: denn unter allen Schwa&#x0364;chen<lb/>
»des Men&#x017F;chen i&#x017F;t das die un&#x017F;chuldig&#x017F;te, wenn er,<lb/>
»an&#x017F;tatt gleich dem Zugvogel &#x017F;ich u&#x0364;ber den Winter<lb/>
»zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich<lb/>
»andern Vo&#x0364;geln vor die&#x017F;em Winter nieder&#x017F;inkt und<lb/>
»dumpf in &#x017F;einem kalten Grame er&#x017F;tarrt.«<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0115] 20. Hundspoſttag. Billet von Emanuel — Flamins Aepfel-Kartons auf den Schultern — Gang nach St. Lüne. »Armer Baſtian, — ſagt' ich, da ich das heutige »Felleiſen aufmachte — eh' ichs auf habe, weiß ich »ſchon voraus, daß du den ganzen Tag nach einer »ſolchen Nacht dich eingeſchloſſen, um dein verblute¬ »tes Angeſicht gegen den Trauergarten zuzuwenden »— daß du heute dieſe brennenden Gifttropfen lie¬ »ber haſt als den Wundbalſam und daß du in den »Spiegel ſchaueſt, um mit der ſtillen ſchuldloſen Ge¬ »ſtalt, die er dir mit ihren Schmerzens-Schnitten »zeigt, in neue Thraͤnen zu zerfließen. — O wenn »der Menſch nichts mehr zu lieben hat, ſo umfaſſet »er das Grabmal ſeiner Liebe und der Schmerz wird »ſeine Geliebte. Vergebet einander den kurzen »Wahnſinn der Klage: denn unter allen Schwaͤchen »des Menſchen iſt das die unſchuldigſte, wenn er, »anſtatt gleich dem Zugvogel ſich uͤber den Winter »zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich »andern Voͤgeln vor dieſem Winter niederſinkt und »dumpf in ſeinem kalten Grame erſtarrt.«

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/115
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/115>, abgerufen am 21.12.2024.