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Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 3. Leipzig, 1846.

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Nun graut es im Osten -- nun fallen alle Nebel, wirbeln und singen alle Vögel zugleich -- ein heiliges Schauern zieht erschütternd durch die ganze Natur, regt sich in der höchsten Eiche, wie im kleinsten Halme -- ein tausendstimmiger Jubel bricht los -- als plötzlich die Sonne aufgegangen und mit viel Tausend strahlenden Liebesbändern die ganze Schöpfung an ihr unsterbliches Herz zieht. Und einer dieser allmächtigen Strahlen rührt auch an den verschlossenen Lilienkelch -- und die Blüthenseele wacht aus ihrem Traum auf, thut ihre verhüllenden Blätter auseinander, öffnet sich dem heißen Lichtglanz und läßt ihn segnend eindringen in ihre goldenen Tiefen, daß köstliche Nektartropfen darinnen hervorperlen. -- Dieser hohen Lilie glich Elisabeth. Gleich einem strahlenden Morgensterne hatte einst Gustav Thalheim ihr nahe gestanden, zu dem sie mit heiligen Vorgefühlen emporschaute -- aber Jaromir war ihr als eine leuchtende Sonne aufgegangen, ihr tief in's Herz gedrungen, so daß es all seiner Schönheit Fund seines Reichthums sich dadurch erst selbst bewußt geworden war und immer vollendeter Beides entfaltete. --

So war denn das ganze Maileben glühender keuscher Liebe für sie angebrochen. --

In den ersten sonnigen Stunden des Nachmittags eilte Jaromir täglich in den Park von Hohenthal und in die stille, von Bäumen verschwiegen beschattete Rotunde, in

Nun graut es im Osten — nun fallen alle Nebel, wirbeln und singen alle Vögel zugleich — ein heiliges Schauern zieht erschütternd durch die ganze Natur, regt sich in der höchsten Eiche, wie im kleinsten Halme — ein tausendstimmiger Jubel bricht los — als plötzlich die Sonne aufgegangen und mit viel Tausend strahlenden Liebesbändern die ganze Schöpfung an ihr unsterbliches Herz zieht. Und einer dieser allmächtigen Strahlen rührt auch an den verschlossenen Lilienkelch — und die Blüthenseele wacht aus ihrem Traum auf, thut ihre verhüllenden Blätter auseinander, öffnet sich dem heißen Lichtglanz und läßt ihn segnend eindringen in ihre goldenen Tiefen, daß köstliche Nektartropfen darinnen hervorperlen. — Dieser hohen Lilie glich Elisabeth. Gleich einem strahlenden Morgensterne hatte einst Gustav Thalheim ihr nahe gestanden, zu dem sie mit heiligen Vorgefühlen emporschaute — aber Jaromir war ihr als eine leuchtende Sonne aufgegangen, ihr tief in’s Herz gedrungen, so daß es all seiner Schönheit Fund seines Reichthums sich dadurch erst selbst bewußt geworden war und immer vollendeter Beides entfaltete. —

So war denn das ganze Maileben glühender keuscher Liebe für sie angebrochen. —

In den ersten sonnigen Stunden des Nachmittags eilte Jaromir täglich in den Park von Hohenthal und in die stille, von Bäumen verschwiegen beschattete Rotunde, in

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[7/0011] Nun graut es im Osten — nun fallen alle Nebel, wirbeln und singen alle Vögel zugleich — ein heiliges Schauern zieht erschütternd durch die ganze Natur, regt sich in der höchsten Eiche, wie im kleinsten Halme — ein tausendstimmiger Jubel bricht los — als plötzlich die Sonne aufgegangen und mit viel Tausend strahlenden Liebesbändern die ganze Schöpfung an ihr unsterbliches Herz zieht. Und einer dieser allmächtigen Strahlen rührt auch an den verschlossenen Lilienkelch — und die Blüthenseele wacht aus ihrem Traum auf, thut ihre verhüllenden Blätter auseinander, öffnet sich dem heißen Lichtglanz und läßt ihn segnend eindringen in ihre goldenen Tiefen, daß köstliche Nektartropfen darinnen hervorperlen. — Dieser hohen Lilie glich Elisabeth. Gleich einem strahlenden Morgensterne hatte einst Gustav Thalheim ihr nahe gestanden, zu dem sie mit heiligen Vorgefühlen emporschaute — aber Jaromir war ihr als eine leuchtende Sonne aufgegangen, ihr tief in’s Herz gedrungen, so daß es all seiner Schönheit Fund seines Reichthums sich dadurch erst selbst bewußt geworden war und immer vollendeter Beides entfaltete. — So war denn das ganze Maileben glühender keuscher Liebe für sie angebrochen. — In den ersten sonnigen Stunden des Nachmittags eilte Jaromir täglich in den Park von Hohenthal und in die stille, von Bäumen verschwiegen beschattete Rotunde, in

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Zitationshilfe: Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 3. Leipzig, 1846, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss03_1846/11>, abgerufen am 26.04.2024.