Allgemeine Zeitung, Nr. 77, 20. März 1900.München, Dienstag Allgemeine Zeitung 20. März 1900. Nr. 77. [Spaltenumbruch]
Deutscher Reichstag. 171. Sitzung. er dem schwarzen Pessimismus, daß bei den Verhand- Ausführlicher telegraphischer Bericht. Berlin, 19. März. Das Haus wendet sich wieder Abg. Pachnicke (Frs. Vgg.), was bisher zur Ausführung Präsident des Reichseisenbahnamts Dr. Schulz: Der Abg. Calwer (Soz.): Die preußische Eisenbahnverwaltung Präsident Schulz: Bisher sind Beschwerden an das Abg. Müller-Sagan (Frs. Vp.): So sind denn die Präsident Schulz: Die Befugniß des Bundesraths, den Abg. Stolle (Soz.) verlangt endliche Berücksichtigung Präsident Schulz: Die Unfälle auf den Eisenbahnen Sächsischer Gesandter Graf Hohenthal: Die Agitation Abg. Bräsicke (Frs. Vp.) kommt auf die Frage der Abg. v. Kardorff (Reichsp.): Mit einer straffen Disciplin, Abg. Schrader (Frs. Vgg.): Die Eisenbahnen sind heute Präsident Schulz: Die Prüfung dieser Frage ist im Abg. Stolle: Das Vorgehen der sächsischen Eisenbahn- Präsident Schulz: Die sächsische Staatsbahnverwaltung Sächsischer Gesandter Graf Hohenthal: Es kann Abg. Hoch (Soz.): Auch in Preußen fehlt nicht bloß Graf Hohenthal: Gewiß hat der Staat als Arbeit- Damit schließt die Diskussion und der Etat wird be- Ueber den Etat des allgemeinen Pensionsfonds Der Etat wird bewilligt. Die Sitzung schließt um [Spaltenumbruch] Höhe: gleich beim Beginn der schwerfälligen Exposition konnte # Konzerte. Am vergangenen Samstag spielten im v. V. Wien, 17. März. Ein heller Vorfrühlingstag München, Dienſtag Allgemeine Zeitung 20. März 1900. Nr. 77. [Spaltenumbruch]
Deutſcher Reichstag. 171. Sitzung. er dem ſchwarzen Peſſimismus, daß bei den Verhand- Ausführlicher telegraphiſcher Bericht. ⎈ Berlin, 19. März. Das Haus wendet ſich wieder Abg. Pachnicke (Frſ. Vgg.), was bisher zur Ausführung Präſident des Reichseiſenbahnamts Dr. Schulz: Der Abg. Calwer (Soz.): Die preußiſche Eiſenbahnverwaltung Präſident Schulz: Bisher ſind Beſchwerden an das Abg. Müller-Sagan (Frſ. Vp.): So ſind denn die Präſident Schulz: Die Befugniß des Bundesraths, den Abg. Stolle (Soz.) verlangt endliche Berückſichtigung Präſident Schulz: Die Unfälle auf den Eiſenbahnen Sächſiſcher Geſandter Graf Hohenthal: Die Agitation Abg. Bräſicke (Frſ. Vp.) kommt auf die Frage der Abg. v. Kardorff (Reichsp.): Mit einer ſtraffen Diſciplin, Abg. Schrader (Frſ. Vgg.): Die Eiſenbahnen ſind heute Präſident Schulz: Die Prüfung dieſer Frage iſt im Abg. Stolle: Das Vorgehen der ſächſiſchen Eiſenbahn- Präſident Schulz: Die ſächſiſche Staatsbahnverwaltung Sächſiſcher Geſandter Graf Hohenthal: Es kann Abg. Hoch (Soz.): Auch in Preußen fehlt nicht bloß Graf Hohenthal: Gewiß hat der Staat als Arbeit- Damit ſchließt die Diskuſſion und der Etat wird be- Ueber den Etat des allgemeinen Penſionsfonds Der Etat wird bewilligt. Die Sitzung ſchließt um [Spaltenumbruch] Höhe: gleich beim Beginn der ſchwerfälligen Expoſition konnte # Konzerte. Am vergangenen Samſtag ſpielten im v. V. Wien, 17. März. Ein heller Vorfrühlingstag <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0002" n="2"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">München, Dienſtag Allgemeine Zeitung</hi> 20. März 1900. Nr. 77.</fw><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <head><hi rendition="#b">Deutſcher Reichstag.</hi><lb/> 171. <hi rendition="#g">Sitzung</hi>.</head> <div xml:id="a01b" prev="#a01a" type="jArticle" n="3"> <p>er dem ſchwarzen Peſſimismus, daß bei den Verhand-<lb/> lungen über eine Tarifreform überhaupt gar nichts<lb/> herauskommen werde, mit einer erfreulich optimiſtiſch ge-<lb/> haltenen Erklärung entgegen. Sozialdemokratiſche Ab-<lb/> geordnete machten ſich zum Sprachrohr für angeblich in<lb/> Braunſchweig und in Sachſen gegen die ſelbſtſüchtige<lb/> preußiſche Verwaltung gehegten Animoſitäten, aber,<lb/> nachdem erſt Präſident Schulz erklärt hatte, daß<lb/> ihm aus <hi rendition="#g">Braunſchweig</hi> keine Klagen zugegangen<lb/> ſeien, vielmehr aus dortigen Handelskreiſen eine An-<lb/> erkennungskundgebung für die angegriffene Verwaltung<lb/> vorliege, verſicherte der ſächſiſche Bundesrathsbevollmächtigte,<lb/> Graf <hi rendition="#g">Hohenthal</hi>, ausdrücklich, daß zwiſchen der <hi rendition="#g">ſächſi-<lb/> ſchen</hi> und preußiſchen Verwaltung die beſten Beziehungen<lb/> herrſchten. Sehr werthvoll war auch die Entſchiedenheit,<lb/> mit der der ſächſiſche Vertreter zwei Dinge als unverrück-<lb/> bare Normen, von denen die Regierung durch keinerlei<lb/> Agitation ſich werde abdrängen laſſen, hinſtellte: die<lb/> Diſciplin unter den Eiſenbahnbeamten und die Für-<lb/> ſorge für die Sicherheit des Verkehrs. Hr. v. <hi rendition="#g">Kar-<lb/> dorff</hi> (Reichsp.) verhehlte nicht, daß es ein ſchwerer<lb/> Fehler geweſen ſei, die Regelung der Gehaltsverhält-<lb/> niſſe der Eiſenbahnbeamten ganz und gar in die Hand<lb/> des Parlaments zu legen und ſo der Agitation<lb/> Thor und Thür zu öffnen. Nach dem Etat des Eiſen-<lb/> bahnamts kam noch der <hi rendition="#g">allgemeine Penſionsfonds</hi><lb/> zur Beſprechung. Der Referent Graf <hi rendition="#g">Oriola</hi> (nat.-lib.)<lb/> gedachte namentlich der bedeutungsvollen Erklärungen des<lb/> preußiſchen Kriegsminiſters v. Goßler vor der Kommiſſion,<lb/> wonach eine allgemeine <hi rendition="#g">Neuregelung</hi> der Penſions-<lb/> verhältniſſe eintreten ſoll. Morgen wird die Etats-<lb/> berathung fortgeſetzt.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Ausführlicher telegraphiſcher Bericht.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>⎈ <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 19. März.</dateline><lb/> <p>Das Haus wendet ſich wieder<lb/> dem <hi rendition="#g">Etat</hi> zu. Beim Etat des <hi rendition="#g">Reichseiſenbahnamts</hi> fragt</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Pachnicke</hi> (Frſ. Vgg.), was bisher zur Ausführung<lb/> des Artikels 45 der Verfaſſung gethan ſei, wonach das Reich<lb/> für möglichſte Gleichmäßigkeit und Herabſetzung der Tarife<lb/> ſorgen ſolle. In Süddeutſchland ſei man zu einer Ermäßigung<lb/> bereit, aber nicht in Preußen. Der preußiſche Eiſenbahnminiſter<lb/> v. Thielen will nur eine Vereinfachung der Tarife, keine Herab-<lb/> ſetzung, und auch die Vereinfachung nur zur Entlaſtung und<lb/> Verminderung der Schalterbeamten, nicht im Intereſſe des<lb/> Publikums; dabei beruft er ſich auf die Nothwendigkeit, die<lb/> Stetigkeit der Einnahmen zu erhalten, trotz ihrer beſtändigen<lb/> Zunahme in Preußen.</p><lb/> <p>Präſident des Reichseiſenbahnamts <hi rendition="#aq">Dr.</hi> <hi rendition="#b">Schulz:</hi> Der<lb/> Hr. Vorredner wird ſich noch etwas gedulden müſſen. Das<lb/> Amt hat alles Mögliche gethan, um die Verhandlungen mit<lb/> den Bundesregierungen über die Vereinfachung der Perſonen-<lb/> tarife zu fördern. Dazu iſt die Beſeitigung einer großen<lb/> Anzahl verſchiedener Sonderbeſtimmungen nothwendig. Den<lb/> Ausgleich wird man nur darin finden können, daß man das<lb/> Niveau der einfachen Tarife angemeſſen ermäßigt. In Nord-<lb/> deutſchland wäre eine weitere Ermäßigung möglich durch Auf-<lb/> hebung des Freigepäcks. Die große Schwierigkeit liegt in der<lb/> Konſtruktion des richtigen Niveaus für die künftigen Tarife.<lb/> Auf die Finanzen der Einzelſtaaten muß Rückſicht genommen<lb/> werden. In dieſem Punkte iſt noch keine Einigung erreicht.<lb/> Ferner ſind die Einzelſtaaten in der Geſtaltung ihrer Tarife<lb/> unabhängig und es kann von Reichs wegen kein Zwang auf<lb/> ſie ausgeübt werden. Mit dem, was der preußiſche Eiſenbahn-<lb/> miniſter in dieſem Punkte erklärt hat, muß auch das Reichs-<lb/> eiſenbahnamt rechnen; ich hoffe dennoch, daß das endliche<lb/> Reſultat noch etwas beſſer ſein wird, als wir erwarteten.<lb/> Ueber den einfachen billigen Gepäcktarif iſt die Einigung nahezu<lb/> herbeigeführt.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Calwer</hi> (Soz.): Die preußiſche Eiſenbahnverwaltung<lb/> hat von ihrer Uebermacht Braunſchweig gegenüber in will-<lb/> kürlichſter Weiſe Gebrauch gemacht, um die braunſchweigiſchen<lb/> Eiſenbahnintereſſen zu vergewaltigen. Redner ſucht dies im<lb/> einzelnen ſowohl an den Linienführungen der Bahnen wie an<lb/> der Art des Betriebes und Verkehrs nachzuweiſen.</p><lb/> <p>Präſident <hi rendition="#b">Schulz:</hi> Bisher ſind Beſchwerden an das<lb/> Reichseiſenbahnamt nicht gelangt. Einzuſchreiten hatte es keinen<lb/> Anlaß. Mit der Betriebsſicherheit iſt es auf den braun-<lb/> ſchweigiſchen Bahnhöfen ebenſo gut beſtellt wie anderswo;<lb/><cb/> gewiß ſind viele des Umbaues bedürftig; ſie werden wohl<lb/> alle einmal an die Reihe kommen. Die Beſchwerden ſind<lb/> örtlicher Natur und gehören in die Einzellandtage. Dem<lb/> preußiſchen Reſſoriminiſter hat der Präſident der braun-<lb/> ſchweigiſchen Handelskammer für ſeine Fürſorge gedankt.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Müller</hi>-Sagan (Frſ. Vp.): So ſind denn die<lb/> Hoffnungen auf baldige Tarifreform noch tiefer herabgeſtimmt.<lb/> Das Reichseiſenbahnamt, anſtatt energiſch Initiative zu er-<lb/> greifen, reſpektirt entſagungsvoll die Einſprüche des Miniſters<lb/> v. Thielen. Wie ſtark der Widerſtand bis jetzt iſt, hat ſich deutlich<lb/> gezeigt, als wir die billigen Tarife für kommandirte Soldaten<lb/> in geſchloſſenen Trupps auf den einzelnen Urlauber auszu-<lb/> dehnen beantragten. Durch die Aenderung in der Ausbil-<lb/> dung der Mannſchaften, durch die Friedensübungen auf den<lb/> großen Korpsübungsplätzen haben auch die Einnahmen der<lb/> Eiſenbahn ſtark zugenommen.</p><lb/> <p>Präſident <hi rendition="#b">Schulz:</hi> Die Befugniß des Bundesraths, den<lb/> Tarif für Militärperſonen feſtzuſetzen, beruht auf dem Geſetz<lb/> für die Naturalleiſtungen für die bewaffnete Macht im Frieden.<lb/> Die frühere Unterſcheidung zwiſchen ausgerüſteten und nicht<lb/> ausgerüſteten Mannſchaften iſt 1887 beſeitigt und der Satz<lb/> allgemein auf 1½ Pf. für den Kilometer normirt worden.<lb/> Seitdem iſt eine weitere Ermäßigung eingetreten. Für dienſt-<lb/> liche Transporte iſt der Satz auf 1 Pf. herabgeſetzt, weil<lb/> größere Kommandos eine gute Ausnützung der Transport-<lb/> mittel geſtatten. Dienſtliche Einzelfahrten kommen kaum in<lb/> Frage. Bei Urlaubsfahrten der einzelnen Soldaten iſt die<lb/> Ermäßigung nicht gewährt worden, weil der eben angeführte<lb/> Grund in Fortfall kommt und der Satz von 1½ Pf. ſchon<lb/> jetzt eine ſtarke Ermäßigung gegenüber dem gewöhnlichen<lb/> Tarif darſtellt. Die Stellungnahme des Bundesraths zu der<lb/> eventuell vom Reichstag zu faſſenden Reſolution wird abzu-<lb/> warten ſein. Die weitere Anregung, den Soldaten einmal<lb/> im Jahre freie Fahrt nach der Heimath zu gewähren, findet<lb/> in den beſtehenden Geſetzen keinen Boden. Der Bundesrath<lb/> würde die Eiſenbahn dazu nicht nöthigen können.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Stolle</hi> (Soz.) verlangt endliche Berückſichtigung<lb/> der Anſprüche der Hunderttauſende der Eiſenbahnbetriebs-<lb/> beamten und -arbeiter auf eine angemeſſene Ruhezeit. Daß<lb/> die Zahl der Eiſenbahnunfälle zunimmt, iſt nichts als die<lb/> natürliche Folge der aus Knickerei entſprungenen Ueberlaſtung<lb/> des einzelnen Beamten und Arbeiters. Das furchtbare Eiſen-<lb/> bahnunglück von Biſchweiler hat ſich am hellen Tage er-<lb/> eignet. Den Arbeitern darf die Berufsfreudigkeit nicht ge-<lb/> nommen werden, aber anſtatt ihnen irgendwie entgegenzu-<lb/> kommen, maßregelt man ſie, wenn ſie das Staatsverbrechen<lb/> begehen, ſich zu verſammeln, um über ihre Lage zu berathen;<lb/> ſo iſt es den Eiſenbahnern in Sachſen und Preußen ge-<lb/> gangen. Auch Artikel 42 der Verfaſſung, wonach die Bundes-<lb/> regierungen verpflichtet ſind, die deutſchen Bahnen im Inter-<lb/> eſſe des Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten zu<lb/> laſſen, iſt ſeit 30 Jahren beſtehendes Recht, aber ausgeführt<lb/> wird es nicht. Noch immer werden die unglaublichſten Um-<lb/> wege für die ſächſiſchen Exportgüter gewählt, damit nur der<lb/> preußiſche Eiſenbahnfiskus nicht zu kurz kommt.</p><lb/> <p>Präſident <hi rendition="#b">Schulz:</hi> Die Unfälle auf den Eiſenbahnen<lb/> haben in den letzten Jahren nicht zu-, ſondern abgenommen.<lb/> Das Reichseiſenbahnamt hat keine Befugniß, gegen die Maß-<lb/> nahmen der einzelnen Staatsbahnverwaltungen den Eiſenbahn-<lb/> beamtenvereinigungen gegenüber Stellung zu nehmen, ſoweit<lb/> nicht Intereſſen der Landesvertheidigung und des allgemeinen<lb/> Verkehrs in Betracht kommen. Dieſen Intereſſen wird jeden-<lb/> falls durch eine wohlwollende, aber ſtrenge Diſciplin gedient.</p><lb/> <p>Sächſiſcher Geſandter <hi rendition="#b">Graf Hohenthal:</hi> Die Agitation<lb/> des Vereins der Eiſenbahnarbeiter hat in Sachſen ſogar die<lb/> Diſciplin in den Eiſenbahnwerkſtätten ſtark geſtört. Infolge-<lb/> deſſen hat die Regierung eine Verordnung erlaſſen, die die<lb/> Arbeiter und Beamten warnt, da der Beitritt zum Verein<lb/> die Entlaſſung aus dem Staatsdienſt unweigerlich zur Folge<lb/> haben werde. Bei dieſer Verordnung wird es bleiben. Wie<lb/> der Arbeiter überall ſeine Kraft zu verwerthen die Freiheit<lb/> und das Recht hat, ebenſo hat der Arbeitgeber das Recht,<lb/> ſich der Arbeiter zu entledigen, von denen er annimmt, daß<lb/> ſie zu ſeinem Dienſt nicht geeignet ſind. Die Beziehungen<lb/> der beiden Verwaltungen Sachſen und Preußen ſind die<lb/> beſten und der Wettbewerb um gewiſſe Transporte wird in<lb/> der allerloyalſten Weiſe geführt.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Bräſicke</hi> (Frſ. Vp.) kommt auf die Frage der<lb/><cb/> Staffeltarife zurück Hr. v. Thielen ſei denſelben gar nicht<lb/> ſo abgeneigt, aber ein Mächtigerer ſtehe leider hinter ihm Es<lb/> gelte, den Widerſtand des preußiſchen Finanzminiſters zu brechen.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">v. Kardorff</hi> (Reichsp.): Mit einer ſtraffen Diſciplin,<lb/> wie ſie im Eiſenbahnweſen herrſchen muß, iſt ein unbedingtes<lb/> Koalitionsrecht der Eiſenbahnarbeiter unvereinbar. Daß die<lb/> Regierung die Regelung der Gehälter der Beamten ganz und<lb/> gar in die Hände der Parlamente hat gleiten laſſen, iſt ein<lb/> Vorwurf, den ich ihr heute wiederhole; unter dem Fürſten<lb/> Bismarck wäre das nicht möglich geweſen. Das hat nicht<lb/> nur zur Demoraliſation der Beamten, ſondern auch der<lb/> Parlamente geführt. (Große Unruhe links.) Daran tragen<lb/> alle Parteien ohne Ausnahme gleichmäßig Schuld. Für die<lb/> großen Handelshäuſer und den Großverkehr bilden die Eiſen-<lb/> bahntarife eine gewiſſe indirekte Steuer, da ſie ſonſt von den<lb/> indirekten Steuern zu wenig getroffen werden. (Hört! Hört!<lb/> links.). Unfälle im Eiſenbahnbetrieb ſind zum Theil gerade<lb/> infolge einer gewiſſen übertriebenen Sparſamkeit, zumal in<lb/> Preußen, eingetreten, und ich muß wünſchen, daß dieſe Spar-<lb/> ſamkeit nicht weiter übertrieben wird.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Schrader</hi> (Frſ. Vgg.): Die Eiſenbahnen ſind heute<lb/> keine Verkehrsanſtalt, ſondern eine Staatsanſtalt zur Hebung<lb/> des Staatseinkommens. Das Abſonderlichſte auf dem Ge-<lb/> biete dieſer Auffaſſung leiſtet Hr. v. Kardorff, der die Eiſen-<lb/> bahntarife für eine Art Ergänzungsſteuer, eine Konſumtions-<lb/> ſteuer auf die Güter erklärte. Allgemeine Durchführung von<lb/> Vorrichtungen zur Verſtärkung der Betriebsſicherheit würde<lb/> viele Millionen koſten, und vor ſo hohen Ausgaben ſcheut<lb/> eine Verwaltung naturgemäß zurück, die in erſter Linie auf<lb/> alle Fälle große Ueberſchüſſe herauswirthſchaften ſoll. Redner<lb/> empfiehlt ſchließlich den Uebergang zur amerikaniſchen Ver-<lb/> kuppelung.</p><lb/> <p>Präſident <hi rendition="#b">Schulz:</hi> Die Prüfung dieſer Frage iſt im<lb/> Gange; die entgegenſtehenden Schwierigkeiten ſind aber nicht<lb/> zu unterſchätzen; auf den bayeriſchen Staatsbahnen laufen<lb/> allerdings ſchon einige mit dieſer neuen Verkuppelung ver-<lb/> ſehene Wagen.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Stolle:</hi> Das Vorgehen der ſächſiſchen Eiſenbahn-<lb/> verwaltung gegen die Eiſenbahner fördert nicht, ſondern ge-<lb/> fährdet die Betriebsſicherheit der Eiſenbahn. In Sachſen hat<lb/> man nach preußiſchem Vorgang und Muſter eine Verordnung<lb/> erlaſſen, wonach Anträge auf Vermehrung der Beamten aufs<lb/> äußerſte zu beſchränken ſind. Die Beſchwichtigung des<lb/> ſächſiſchen Geſandten wird die ſächſiſche Induſtrie, die über<lb/> Hamburg nach England exportirt, nicht befriedigen. Seine<lb/> Auffaſſung über das Arbeitsverhältniß war rein kapitaliſtiſch.</p><lb/> <p>Präſident <hi rendition="#b">Schulz:</hi> Die ſächſiſche Staatsbahnverwaltung<lb/> ſteht nicht bloß in der Zahl der Eiſenbahnbeamten und Ar-<lb/> beiter, ſondern gerade auch in Bezug auf deren Bezahlung<lb/> über dem Durchſchnitt der deutſchen Bahnen.</p><lb/> <p>Sächſiſcher Geſandter <hi rendition="#b">Graf Hohenthal:</hi> Es kann<lb/> auch für den Arbeitgeber ſchmerzlich ſein, einen bewährten<lb/> Arbeiter entlaſſen zu müſſen. Meine Auffaſſung iſt auch die<lb/> Auffaſſung der ſächſiſchen Regierung.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Hoch</hi> (Soz.): Auch in Preußen fehlt nicht bloß<lb/> der Wille, die Zuſtände zu beſſern, ſondern man läßt den<lb/> baulichen Zuſtand der Bahnen thatſächlich ſchlechter und<lb/> ſchlechter werden. Die Streckenarbeiter werden erbärmlich<lb/> entlohnt. Arbeitgeber iſt doch der Staat und der Staat ſind<lb/> nicht die paar Miniſter, ſondern die Geſammtheit der Bevöl-<lb/> kerung, die von der Regierung ein ganz anderes Entgegen-<lb/> kommen gegen die Arbeiter verlangen muß. Die Tendenz<lb/> der Verwaltung geht einfach dahin, immer mehr Arbeiter<lb/> auszuſchalten, ohne jede Rückſicht auf die Betriebsſicherheit.</p><lb/> <p>Graf <hi rendition="#b">Hohenthal:</hi> Gewiß hat der Staat als Arbeit-<lb/> geber ganz beſondere Verpflichtungen, aber bei einem gewiſſen<lb/> Punkt hören dieſe Verpflichtungen auf: bei dem Punkt der<lb/> Diſciplin und bei dem Punkt der Sicherheit des Verkehrs.</p><lb/> <p>Damit ſchließt die Diskuſſion und der Etat wird <hi rendition="#g">be-<lb/> willigt</hi>.</p><lb/> <p>Ueber den Etat des <hi rendition="#g">allgemeinen Penſionsfonds</hi><lb/> berichtet Abg. <hi rendition="#b">Graf Oriola</hi> (nat.-lib.). Der Referent ver-<lb/> weist auf die in der Kommiſſion abgegebenen Erklärungen<lb/> des <hi rendition="#g">preußiſchen</hi> Kriegsminiſters v. <hi rendition="#g">Goßler</hi>, daß die Ge-<lb/> ſetzgebung über die Militärpenſionen auf neue Grundlagen<lb/> unter Anlehnung an die Unfallgeſetzgebung geſtellt werden ſoll.</p><lb/> <p>Der Etat wird <hi rendition="#g">bewilligt</hi>. Die Sitzung ſchließt um<lb/> 6 Uhr. <hi rendition="#g">Dienſtag</hi> 1 Uhr wird die Berathung fortgeſetzt.</p><lb/> </div> </div> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div xml:id="a02b" prev="#a02a" type="jArticle" n="2"> <p>Höhe: gleich beim Beginn der ſchwerfälligen Expoſition konnte<lb/> man die Natürlichkeit der Herren bei Tiſch bewundern. Wie<lb/> langweilig werden dagegen Eßſcenen auf deutſchen Bühnen ge-<lb/> ſpielt! Da war keine Spur von jener deutſchen Schwerfälligkeit,<lb/> die vom Darſteller verlangt, daß er in einem Akt im Namen<lb/> der Wahrheit alle Seſſel eines Salons durchprobiren muß. Die<lb/> lebendigen Italiener gaben das Stück als italieniſches Kon-<lb/> verſationsſtück, und ſelbſt die poſſenhaften Nebenrollen wurden<lb/> gedämpft, ſozuſagen geſellſchaftsmäßig geſpielt, wie es dem<lb/> engliſchen Geſchmack keineswegs zuſagen würde. Frau Duſe<lb/> hält darauf, daß der Eindruck einer Vorſtellung nicht durch<lb/> Talentloſigkeit der einzelnen Künſtler geſtört werde; ſie weiß<lb/> das Talent neben ſich zu dulden. Der Darſteller des Gatten<lb/> Aubery, Carlo <hi rendition="#g">Roſaſpina</hi>, fand ſich ſehr gut mit ſeiner<lb/> nichtsſagenden, leeren Rolle ab, die übrigens kein abſchließendes<lb/> Urtheil über den Künſtler geſtattet. Die kommenden Abende<lb/> werden die Duſe und die Truppe in bedeutſameren Werken<lb/> zeigen. Das Publikum nahm die glänzende Leiſtung des be-<lb/> rühmten Gaſtes mit der entſprechenden Begeiſterung auf.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head># <hi rendition="#b">Konzerte.</hi></head><lb/> <p>Am vergangenen Samſtag ſpielten im<lb/> Odeon <hi rendition="#g">Pablo de Saraſate</hi> und <hi rendition="#g">Berthe Marx</hi>. Wie<lb/> der dichtgefüllte Saal bewies, hat das berühmte Künſtlerpaar<lb/> von ſeiner faſt noch berühmteren Anziehungskraft, wenigſtens<lb/> bei uns, nicht das Geringſte eingebüßt. Auch der ſtets eruptiv<lb/> hervorbrechende Beifallsſturm erinnerte an die nun mehr als<lb/> ein Luſtrum zurückliegende Zeit, wo die Beiden im Verein<lb/> triumphbeladen durch den Kontinent gezogen kamen und aller-<lb/> orts einen Jubel entfeſſelten, der an Heftigkeit und Dauer<lb/> das Dageweſene weit übertraf. Es iſt bekannt, daß, als<lb/> Saraſate allein reiste, ſeltſamerweiſe nicht nur der urfeurige<lb/> Applaus zurückging, ſondern auch die allgemeine, bedingungs-<lb/> loſe Anerkennung ſeiner künſtleriſchen Leiſtungen. Wie oft<lb/> hat der „ſpaniſche Geigerkönig“, namentlich in den letzten<lb/> Jahren, zum ſüßen Lob nicht den bitteren Zuſatz ſchlucken<lb/> müſſen: „er wird merklich alt!“ Auch das gilt heuer nicht.<lb/> Sarafate geigte ſo friſch und freudig, intonirte ſo ſauber,<lb/> brachte die Flageoletdoppelgriffe ſo ſchwebungslos heraus,<lb/> daß man ſich faktiſch um zehn Jahre zurückverſetzt wähnte,<lb/> in den Zenith ſeines Ruhmes. Erſtannliche Leichtigkeit der<lb/> Bogenführung war von jeher ſeine Tugend. Sie iſt mit der<lb/> Grund, warum der an ſich nicht große Ton ſo gewaltig<lb/> trägt und ſelbſt im raſcheſten Tempo und bei den höchſten<lb/> Anforderungen an die Applikatur niemals verſagt. Freilich<lb/><cb/> macht der Künſtler von dieſer ſeiner Stärke den ausgiebigſten<lb/> Gebrauch auch da, wo ein geringes Maß hinlänglich genügte.<lb/> Er beweist damit, daß es ihm mehr um die Entfaltung ver-<lb/> blüffender Hexenkünſte zu thun iſt, als um wirklich künſt-<lb/> leriſches Geſtalten. Virtuoſität um ihrer ſelbſtwillen aber iſt<lb/> eine böſe Sache. Saraſate ſpielte Schuberts Phantaſie in <hi rendition="#aq">C</hi>,<lb/> eine ſtark gewäſſerte Sonate für Violine und Klavier von<lb/> Saint-Sa<hi rendition="#aq">ë</hi>ns, Raffs „Liebesfee“ und zuletzt zwei unſäglich<lb/> triviale Sachen eigener Kompoſition. Das Raff’ſche Stück<lb/> gab er auch geiſtig tiefergehend wohl am beſten wieder. Seine<lb/> Partnerin am Klavier, Frau Berthe Marx, hat ſich, ſeit wir<lb/> ſie das letzte Mal hörten, wenig verändert. Sie iſt die<lb/> Meiſterin des brillanten Vortrags. Alles Techniſche beherrſcht<lb/> ſie mit wunderbarer Sicherheit und künſtleriſcher Verklärung.<lb/> Die kleinen, aber ſchwierigen Soloſtücke von Händel, Daquin<lb/> und Scarlatti entwarf ſie unnachahmlich klar in den Umriſſen.<lb/> Wenn ſie ſie nur nicht ſo ſehr in Eis gekühlt hätte! Erſt in<lb/> Chopins Barcarole und zwei Rhapſodien von Liſzt entwickelte<lb/> ſich die prickelnde Kohlenſäure. Das waren phänomenale<lb/> Leiſtungen, voll innerer treibender Kraft, großzügig, entzückend<lb/> fein detaillirt, Kabinetſtücke von Elaſtizität des Anſchlags<lb/> und der Auffaſſung. — In der <hi rendition="#aq">III.</hi> <hi rendition="#g">Matinee</hi> von<lb/> Elfriede <hi rendition="#g">Schunck</hi> (Klavier), Emil <hi rendition="#g">Wagner</hi> (Violine) und<lb/> Hans <hi rendition="#g">Weber</hi> (Cello) gelangte außer den Trios in <hi rendition="#aq">B</hi> (Peters,<lb/> Nr. 2) von Mozart und in <hi rendition="#aq">Es op.</hi> 100 von Schubert eine<lb/> ſehr werthvolle Sonate für Cello und Klavier <hi rendition="#aq">op.</hi> 15 von<lb/> Anton Beer zur Aufführung. Intenſive Ausdruckswärme<lb/> und gutgeprägte Themen ſind die Vorzüge dieſes Werks.<lb/> Der erſte Satz iſt durchwegs kräftig gehalten, ſtreift aber<lb/> zeitweilig auch durch ſchattige Gebiete. In der Durchführung<lb/> überwiegt die Arbeit die Phantaſie. Tiefer geht der Kom-<lb/> poniſt im marſchmäßigen Andante, dem er ein etwas leiden-<lb/> des, doch edles Geſangsthema zugrunde legt; im zweiten<lb/> Theil läßt er die gedämpften Streichinſtrumente einen viſio-<lb/> nären Blick in die Zukunft thun. Der Schlußſatz ſpiegelt<lb/> ſich auf romantiſchem Grund; er erzählt von frohem Ge-<lb/> nießen und blickt ſinnend in die ſonnige Landſchaft hinaus.<lb/> Frl. Schunck und Hr. Weber brachten die einzelnen Schön-<lb/> heiten des Werks mit hohem Verſtändniß und errangen<lb/> freundlichen Beifall. Ihre Wiedergabe der Trios, zu der ſich<lb/> der ausgezeichnete Geiger Hr. Wagner geſellte, zeigte von<lb/> neuem, wie wahrhaft tief die jungen Künſtler in den Geiſt<lb/> unſrer Klaſſiker ſchon eingedrungen ſind.</p><lb/> <cb/> </div> <div type="jArticle" n="2"> <dateline><hi rendition="#aq">v. V.</hi><hi rendition="#b">Wien,</hi> 17. März.</dateline><lb/> <p>Ein heller Vorfrühlingstag<lb/> brachte heute die vom <hi rendition="#g">Kaiſer</hi> vollzogene Eröffnung der<lb/> 27. <hi rendition="#g">Jahresausſtellung im Künſtlerhauſe</hi>. Selten<lb/> bot dieſe Eröffnung ein glänzenderes äußeres Bild: Reihen<lb/> von ſtolzen Equipagen, ein Beſucherzudrang zum Erſticken.<lb/> Architekt Urban hat die weiten, vielfachen Räume den Be-<lb/> dürfniſſen der Ausſtellung geſchickt angepaßt. Kein Zuviel<lb/> im Dekorativen, zweckmäßige Einbauten im Säulenhof<lb/> und im deutſchen Saale, hübſche diskrete Ziermuſter an den<lb/> Wänden. Die Münchener haben den Hauptantheil am Aus-<lb/> ſtellungsbilde. Sogleich in dem der Großplaſtik gewidmeten<lb/> Mittelraume begrüßen wir Rudolf Maiſons „Kaiſer Otto <hi rendition="#aq">I.</hi>“<lb/> und die mächtigen Heroldreiter vom Berliner Reichstags-<lb/> palaſt in polychromiſchen Abgüſſen. Jef Lambeaux’ monu-<lb/> mentale Ringergruppe, Edmund v. Hofmanns Koloſſalfigur<lb/> Lionardo da Vinci’s in Mormor und eine Bildnißbüſte von<lb/> Zumbuſch verdienen beſonderes Intereſſe. Der Luitpold-<lb/> Gruppe wurden drei Säle, worunter der große franzöſiſche,<lb/> eingeräumt. Man bleibt zunächſt vor dem großen Bild der<lb/> Brüder Schuſter-Woldan und Firle’s „Heiliger Nacht“ ſtehen.<lb/> Im deutſchen Saal geben die Worpsweder die Note an.<lb/> Mackenſens eindrucksvolles Großbild „Die Scholle“ ſieht man<lb/> zum erſtenmal in Wien; Vinnen imponirt durch großgeſchante,<lb/> umfangreiche Landſchaften. Ein beſonderes Kabinet hat der<lb/> Capriccio-Maler Strathmann erhalten. Seine Kurioſa haben<lb/> ihr Publikum. Das Bildniß iſt durch Lenbach, den Ungarn<lb/> Laſzlo (Reichskanzler Fürſt Hohenlohe), Horovitz, Pochwalski,<lb/> Frau Roſenthal-Hatſchek (Erzherzog Eugen) vertreten; Pippich<lb/> bringt ſein großes Gefechtsbild „Bei Jajce“; unter den Land-<lb/> ſchaftern ſind Courtens (großes Herbſtbild), Schaeffer (Vor-<lb/> frühling) und die meiſten aus der jüngeren Schule: Zoff,<lb/> Wilt, Ameseder, Kaſparides, der auch ein mächtiges Figuren-<lb/> bild ausſtellt, Bamberger, Tomec hervorragend zu nennen;<lb/> Goltz’ „Vorüber“ hat Stimmung; die modernſte Note unter<lb/> den Landſchaften ſchlagen zwei Neue, Slavicek und Hudecek,<lb/> an. Während Paris aus naheliegenden Gründen ſich nur<lb/> ſehr mäßig betheiligte — die Damenbildniſſe de la Gandara’s<lb/> fallen am meiſten auf —, haben ſich die Engländer mit einer<lb/> ganzen Galerie eingefunden, welcher man den oberen Haupt-<lb/> ſaal eingeräumt hat. Wir kommen ſelbſtredend auf Sezeſſion<lb/> und Künſtlerhaus zurück.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [2/0002]
München, Dienſtag Allgemeine Zeitung 20. März 1900. Nr. 77.
Deutſcher Reichstag.
171. Sitzung. er dem ſchwarzen Peſſimismus, daß bei den Verhand-
lungen über eine Tarifreform überhaupt gar nichts
herauskommen werde, mit einer erfreulich optimiſtiſch ge-
haltenen Erklärung entgegen. Sozialdemokratiſche Ab-
geordnete machten ſich zum Sprachrohr für angeblich in
Braunſchweig und in Sachſen gegen die ſelbſtſüchtige
preußiſche Verwaltung gehegten Animoſitäten, aber,
nachdem erſt Präſident Schulz erklärt hatte, daß
ihm aus Braunſchweig keine Klagen zugegangen
ſeien, vielmehr aus dortigen Handelskreiſen eine An-
erkennungskundgebung für die angegriffene Verwaltung
vorliege, verſicherte der ſächſiſche Bundesrathsbevollmächtigte,
Graf Hohenthal, ausdrücklich, daß zwiſchen der ſächſi-
ſchen und preußiſchen Verwaltung die beſten Beziehungen
herrſchten. Sehr werthvoll war auch die Entſchiedenheit,
mit der der ſächſiſche Vertreter zwei Dinge als unverrück-
bare Normen, von denen die Regierung durch keinerlei
Agitation ſich werde abdrängen laſſen, hinſtellte: die
Diſciplin unter den Eiſenbahnbeamten und die Für-
ſorge für die Sicherheit des Verkehrs. Hr. v. Kar-
dorff (Reichsp.) verhehlte nicht, daß es ein ſchwerer
Fehler geweſen ſei, die Regelung der Gehaltsverhält-
niſſe der Eiſenbahnbeamten ganz und gar in die Hand
des Parlaments zu legen und ſo der Agitation
Thor und Thür zu öffnen. Nach dem Etat des Eiſen-
bahnamts kam noch der allgemeine Penſionsfonds
zur Beſprechung. Der Referent Graf Oriola (nat.-lib.)
gedachte namentlich der bedeutungsvollen Erklärungen des
preußiſchen Kriegsminiſters v. Goßler vor der Kommiſſion,
wonach eine allgemeine Neuregelung der Penſions-
verhältniſſe eintreten ſoll. Morgen wird die Etats-
berathung fortgeſetzt.
Ausführlicher telegraphiſcher Bericht.
⎈ Berlin, 19. März.
Das Haus wendet ſich wieder
dem Etat zu. Beim Etat des Reichseiſenbahnamts fragt
Abg. Pachnicke (Frſ. Vgg.), was bisher zur Ausführung
des Artikels 45 der Verfaſſung gethan ſei, wonach das Reich
für möglichſte Gleichmäßigkeit und Herabſetzung der Tarife
ſorgen ſolle. In Süddeutſchland ſei man zu einer Ermäßigung
bereit, aber nicht in Preußen. Der preußiſche Eiſenbahnminiſter
v. Thielen will nur eine Vereinfachung der Tarife, keine Herab-
ſetzung, und auch die Vereinfachung nur zur Entlaſtung und
Verminderung der Schalterbeamten, nicht im Intereſſe des
Publikums; dabei beruft er ſich auf die Nothwendigkeit, die
Stetigkeit der Einnahmen zu erhalten, trotz ihrer beſtändigen
Zunahme in Preußen.
Präſident des Reichseiſenbahnamts Dr. Schulz: Der
Hr. Vorredner wird ſich noch etwas gedulden müſſen. Das
Amt hat alles Mögliche gethan, um die Verhandlungen mit
den Bundesregierungen über die Vereinfachung der Perſonen-
tarife zu fördern. Dazu iſt die Beſeitigung einer großen
Anzahl verſchiedener Sonderbeſtimmungen nothwendig. Den
Ausgleich wird man nur darin finden können, daß man das
Niveau der einfachen Tarife angemeſſen ermäßigt. In Nord-
deutſchland wäre eine weitere Ermäßigung möglich durch Auf-
hebung des Freigepäcks. Die große Schwierigkeit liegt in der
Konſtruktion des richtigen Niveaus für die künftigen Tarife.
Auf die Finanzen der Einzelſtaaten muß Rückſicht genommen
werden. In dieſem Punkte iſt noch keine Einigung erreicht.
Ferner ſind die Einzelſtaaten in der Geſtaltung ihrer Tarife
unabhängig und es kann von Reichs wegen kein Zwang auf
ſie ausgeübt werden. Mit dem, was der preußiſche Eiſenbahn-
miniſter in dieſem Punkte erklärt hat, muß auch das Reichs-
eiſenbahnamt rechnen; ich hoffe dennoch, daß das endliche
Reſultat noch etwas beſſer ſein wird, als wir erwarteten.
Ueber den einfachen billigen Gepäcktarif iſt die Einigung nahezu
herbeigeführt.
Abg. Calwer (Soz.): Die preußiſche Eiſenbahnverwaltung
hat von ihrer Uebermacht Braunſchweig gegenüber in will-
kürlichſter Weiſe Gebrauch gemacht, um die braunſchweigiſchen
Eiſenbahnintereſſen zu vergewaltigen. Redner ſucht dies im
einzelnen ſowohl an den Linienführungen der Bahnen wie an
der Art des Betriebes und Verkehrs nachzuweiſen.
Präſident Schulz: Bisher ſind Beſchwerden an das
Reichseiſenbahnamt nicht gelangt. Einzuſchreiten hatte es keinen
Anlaß. Mit der Betriebsſicherheit iſt es auf den braun-
ſchweigiſchen Bahnhöfen ebenſo gut beſtellt wie anderswo;
gewiß ſind viele des Umbaues bedürftig; ſie werden wohl
alle einmal an die Reihe kommen. Die Beſchwerden ſind
örtlicher Natur und gehören in die Einzellandtage. Dem
preußiſchen Reſſoriminiſter hat der Präſident der braun-
ſchweigiſchen Handelskammer für ſeine Fürſorge gedankt.
Abg. Müller-Sagan (Frſ. Vp.): So ſind denn die
Hoffnungen auf baldige Tarifreform noch tiefer herabgeſtimmt.
Das Reichseiſenbahnamt, anſtatt energiſch Initiative zu er-
greifen, reſpektirt entſagungsvoll die Einſprüche des Miniſters
v. Thielen. Wie ſtark der Widerſtand bis jetzt iſt, hat ſich deutlich
gezeigt, als wir die billigen Tarife für kommandirte Soldaten
in geſchloſſenen Trupps auf den einzelnen Urlauber auszu-
dehnen beantragten. Durch die Aenderung in der Ausbil-
dung der Mannſchaften, durch die Friedensübungen auf den
großen Korpsübungsplätzen haben auch die Einnahmen der
Eiſenbahn ſtark zugenommen.
Präſident Schulz: Die Befugniß des Bundesraths, den
Tarif für Militärperſonen feſtzuſetzen, beruht auf dem Geſetz
für die Naturalleiſtungen für die bewaffnete Macht im Frieden.
Die frühere Unterſcheidung zwiſchen ausgerüſteten und nicht
ausgerüſteten Mannſchaften iſt 1887 beſeitigt und der Satz
allgemein auf 1½ Pf. für den Kilometer normirt worden.
Seitdem iſt eine weitere Ermäßigung eingetreten. Für dienſt-
liche Transporte iſt der Satz auf 1 Pf. herabgeſetzt, weil
größere Kommandos eine gute Ausnützung der Transport-
mittel geſtatten. Dienſtliche Einzelfahrten kommen kaum in
Frage. Bei Urlaubsfahrten der einzelnen Soldaten iſt die
Ermäßigung nicht gewährt worden, weil der eben angeführte
Grund in Fortfall kommt und der Satz von 1½ Pf. ſchon
jetzt eine ſtarke Ermäßigung gegenüber dem gewöhnlichen
Tarif darſtellt. Die Stellungnahme des Bundesraths zu der
eventuell vom Reichstag zu faſſenden Reſolution wird abzu-
warten ſein. Die weitere Anregung, den Soldaten einmal
im Jahre freie Fahrt nach der Heimath zu gewähren, findet
in den beſtehenden Geſetzen keinen Boden. Der Bundesrath
würde die Eiſenbahn dazu nicht nöthigen können.
Abg. Stolle (Soz.) verlangt endliche Berückſichtigung
der Anſprüche der Hunderttauſende der Eiſenbahnbetriebs-
beamten und -arbeiter auf eine angemeſſene Ruhezeit. Daß
die Zahl der Eiſenbahnunfälle zunimmt, iſt nichts als die
natürliche Folge der aus Knickerei entſprungenen Ueberlaſtung
des einzelnen Beamten und Arbeiters. Das furchtbare Eiſen-
bahnunglück von Biſchweiler hat ſich am hellen Tage er-
eignet. Den Arbeitern darf die Berufsfreudigkeit nicht ge-
nommen werden, aber anſtatt ihnen irgendwie entgegenzu-
kommen, maßregelt man ſie, wenn ſie das Staatsverbrechen
begehen, ſich zu verſammeln, um über ihre Lage zu berathen;
ſo iſt es den Eiſenbahnern in Sachſen und Preußen ge-
gangen. Auch Artikel 42 der Verfaſſung, wonach die Bundes-
regierungen verpflichtet ſind, die deutſchen Bahnen im Inter-
eſſe des Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten zu
laſſen, iſt ſeit 30 Jahren beſtehendes Recht, aber ausgeführt
wird es nicht. Noch immer werden die unglaublichſten Um-
wege für die ſächſiſchen Exportgüter gewählt, damit nur der
preußiſche Eiſenbahnfiskus nicht zu kurz kommt.
Präſident Schulz: Die Unfälle auf den Eiſenbahnen
haben in den letzten Jahren nicht zu-, ſondern abgenommen.
Das Reichseiſenbahnamt hat keine Befugniß, gegen die Maß-
nahmen der einzelnen Staatsbahnverwaltungen den Eiſenbahn-
beamtenvereinigungen gegenüber Stellung zu nehmen, ſoweit
nicht Intereſſen der Landesvertheidigung und des allgemeinen
Verkehrs in Betracht kommen. Dieſen Intereſſen wird jeden-
falls durch eine wohlwollende, aber ſtrenge Diſciplin gedient.
Sächſiſcher Geſandter Graf Hohenthal: Die Agitation
des Vereins der Eiſenbahnarbeiter hat in Sachſen ſogar die
Diſciplin in den Eiſenbahnwerkſtätten ſtark geſtört. Infolge-
deſſen hat die Regierung eine Verordnung erlaſſen, die die
Arbeiter und Beamten warnt, da der Beitritt zum Verein
die Entlaſſung aus dem Staatsdienſt unweigerlich zur Folge
haben werde. Bei dieſer Verordnung wird es bleiben. Wie
der Arbeiter überall ſeine Kraft zu verwerthen die Freiheit
und das Recht hat, ebenſo hat der Arbeitgeber das Recht,
ſich der Arbeiter zu entledigen, von denen er annimmt, daß
ſie zu ſeinem Dienſt nicht geeignet ſind. Die Beziehungen
der beiden Verwaltungen Sachſen und Preußen ſind die
beſten und der Wettbewerb um gewiſſe Transporte wird in
der allerloyalſten Weiſe geführt.
Abg. Bräſicke (Frſ. Vp.) kommt auf die Frage der
Staffeltarife zurück Hr. v. Thielen ſei denſelben gar nicht
ſo abgeneigt, aber ein Mächtigerer ſtehe leider hinter ihm Es
gelte, den Widerſtand des preußiſchen Finanzminiſters zu brechen.
Abg. v. Kardorff (Reichsp.): Mit einer ſtraffen Diſciplin,
wie ſie im Eiſenbahnweſen herrſchen muß, iſt ein unbedingtes
Koalitionsrecht der Eiſenbahnarbeiter unvereinbar. Daß die
Regierung die Regelung der Gehälter der Beamten ganz und
gar in die Hände der Parlamente hat gleiten laſſen, iſt ein
Vorwurf, den ich ihr heute wiederhole; unter dem Fürſten
Bismarck wäre das nicht möglich geweſen. Das hat nicht
nur zur Demoraliſation der Beamten, ſondern auch der
Parlamente geführt. (Große Unruhe links.) Daran tragen
alle Parteien ohne Ausnahme gleichmäßig Schuld. Für die
großen Handelshäuſer und den Großverkehr bilden die Eiſen-
bahntarife eine gewiſſe indirekte Steuer, da ſie ſonſt von den
indirekten Steuern zu wenig getroffen werden. (Hört! Hört!
links.). Unfälle im Eiſenbahnbetrieb ſind zum Theil gerade
infolge einer gewiſſen übertriebenen Sparſamkeit, zumal in
Preußen, eingetreten, und ich muß wünſchen, daß dieſe Spar-
ſamkeit nicht weiter übertrieben wird.
Abg. Schrader (Frſ. Vgg.): Die Eiſenbahnen ſind heute
keine Verkehrsanſtalt, ſondern eine Staatsanſtalt zur Hebung
des Staatseinkommens. Das Abſonderlichſte auf dem Ge-
biete dieſer Auffaſſung leiſtet Hr. v. Kardorff, der die Eiſen-
bahntarife für eine Art Ergänzungsſteuer, eine Konſumtions-
ſteuer auf die Güter erklärte. Allgemeine Durchführung von
Vorrichtungen zur Verſtärkung der Betriebsſicherheit würde
viele Millionen koſten, und vor ſo hohen Ausgaben ſcheut
eine Verwaltung naturgemäß zurück, die in erſter Linie auf
alle Fälle große Ueberſchüſſe herauswirthſchaften ſoll. Redner
empfiehlt ſchließlich den Uebergang zur amerikaniſchen Ver-
kuppelung.
Präſident Schulz: Die Prüfung dieſer Frage iſt im
Gange; die entgegenſtehenden Schwierigkeiten ſind aber nicht
zu unterſchätzen; auf den bayeriſchen Staatsbahnen laufen
allerdings ſchon einige mit dieſer neuen Verkuppelung ver-
ſehene Wagen.
Abg. Stolle: Das Vorgehen der ſächſiſchen Eiſenbahn-
verwaltung gegen die Eiſenbahner fördert nicht, ſondern ge-
fährdet die Betriebsſicherheit der Eiſenbahn. In Sachſen hat
man nach preußiſchem Vorgang und Muſter eine Verordnung
erlaſſen, wonach Anträge auf Vermehrung der Beamten aufs
äußerſte zu beſchränken ſind. Die Beſchwichtigung des
ſächſiſchen Geſandten wird die ſächſiſche Induſtrie, die über
Hamburg nach England exportirt, nicht befriedigen. Seine
Auffaſſung über das Arbeitsverhältniß war rein kapitaliſtiſch.
Präſident Schulz: Die ſächſiſche Staatsbahnverwaltung
ſteht nicht bloß in der Zahl der Eiſenbahnbeamten und Ar-
beiter, ſondern gerade auch in Bezug auf deren Bezahlung
über dem Durchſchnitt der deutſchen Bahnen.
Sächſiſcher Geſandter Graf Hohenthal: Es kann
auch für den Arbeitgeber ſchmerzlich ſein, einen bewährten
Arbeiter entlaſſen zu müſſen. Meine Auffaſſung iſt auch die
Auffaſſung der ſächſiſchen Regierung.
Abg. Hoch (Soz.): Auch in Preußen fehlt nicht bloß
der Wille, die Zuſtände zu beſſern, ſondern man läßt den
baulichen Zuſtand der Bahnen thatſächlich ſchlechter und
ſchlechter werden. Die Streckenarbeiter werden erbärmlich
entlohnt. Arbeitgeber iſt doch der Staat und der Staat ſind
nicht die paar Miniſter, ſondern die Geſammtheit der Bevöl-
kerung, die von der Regierung ein ganz anderes Entgegen-
kommen gegen die Arbeiter verlangen muß. Die Tendenz
der Verwaltung geht einfach dahin, immer mehr Arbeiter
auszuſchalten, ohne jede Rückſicht auf die Betriebsſicherheit.
Graf Hohenthal: Gewiß hat der Staat als Arbeit-
geber ganz beſondere Verpflichtungen, aber bei einem gewiſſen
Punkt hören dieſe Verpflichtungen auf: bei dem Punkt der
Diſciplin und bei dem Punkt der Sicherheit des Verkehrs.
Damit ſchließt die Diskuſſion und der Etat wird be-
willigt.
Ueber den Etat des allgemeinen Penſionsfonds
berichtet Abg. Graf Oriola (nat.-lib.). Der Referent ver-
weist auf die in der Kommiſſion abgegebenen Erklärungen
des preußiſchen Kriegsminiſters v. Goßler, daß die Ge-
ſetzgebung über die Militärpenſionen auf neue Grundlagen
unter Anlehnung an die Unfallgeſetzgebung geſtellt werden ſoll.
Der Etat wird bewilligt. Die Sitzung ſchließt um
6 Uhr. Dienſtag 1 Uhr wird die Berathung fortgeſetzt.
Höhe: gleich beim Beginn der ſchwerfälligen Expoſition konnte
man die Natürlichkeit der Herren bei Tiſch bewundern. Wie
langweilig werden dagegen Eßſcenen auf deutſchen Bühnen ge-
ſpielt! Da war keine Spur von jener deutſchen Schwerfälligkeit,
die vom Darſteller verlangt, daß er in einem Akt im Namen
der Wahrheit alle Seſſel eines Salons durchprobiren muß. Die
lebendigen Italiener gaben das Stück als italieniſches Kon-
verſationsſtück, und ſelbſt die poſſenhaften Nebenrollen wurden
gedämpft, ſozuſagen geſellſchaftsmäßig geſpielt, wie es dem
engliſchen Geſchmack keineswegs zuſagen würde. Frau Duſe
hält darauf, daß der Eindruck einer Vorſtellung nicht durch
Talentloſigkeit der einzelnen Künſtler geſtört werde; ſie weiß
das Talent neben ſich zu dulden. Der Darſteller des Gatten
Aubery, Carlo Roſaſpina, fand ſich ſehr gut mit ſeiner
nichtsſagenden, leeren Rolle ab, die übrigens kein abſchließendes
Urtheil über den Künſtler geſtattet. Die kommenden Abende
werden die Duſe und die Truppe in bedeutſameren Werken
zeigen. Das Publikum nahm die glänzende Leiſtung des be-
rühmten Gaſtes mit der entſprechenden Begeiſterung auf.
# Konzerte.
Am vergangenen Samſtag ſpielten im
Odeon Pablo de Saraſate und Berthe Marx. Wie
der dichtgefüllte Saal bewies, hat das berühmte Künſtlerpaar
von ſeiner faſt noch berühmteren Anziehungskraft, wenigſtens
bei uns, nicht das Geringſte eingebüßt. Auch der ſtets eruptiv
hervorbrechende Beifallsſturm erinnerte an die nun mehr als
ein Luſtrum zurückliegende Zeit, wo die Beiden im Verein
triumphbeladen durch den Kontinent gezogen kamen und aller-
orts einen Jubel entfeſſelten, der an Heftigkeit und Dauer
das Dageweſene weit übertraf. Es iſt bekannt, daß, als
Saraſate allein reiste, ſeltſamerweiſe nicht nur der urfeurige
Applaus zurückging, ſondern auch die allgemeine, bedingungs-
loſe Anerkennung ſeiner künſtleriſchen Leiſtungen. Wie oft
hat der „ſpaniſche Geigerkönig“, namentlich in den letzten
Jahren, zum ſüßen Lob nicht den bitteren Zuſatz ſchlucken
müſſen: „er wird merklich alt!“ Auch das gilt heuer nicht.
Sarafate geigte ſo friſch und freudig, intonirte ſo ſauber,
brachte die Flageoletdoppelgriffe ſo ſchwebungslos heraus,
daß man ſich faktiſch um zehn Jahre zurückverſetzt wähnte,
in den Zenith ſeines Ruhmes. Erſtannliche Leichtigkeit der
Bogenführung war von jeher ſeine Tugend. Sie iſt mit der
Grund, warum der an ſich nicht große Ton ſo gewaltig
trägt und ſelbſt im raſcheſten Tempo und bei den höchſten
Anforderungen an die Applikatur niemals verſagt. Freilich
macht der Künſtler von dieſer ſeiner Stärke den ausgiebigſten
Gebrauch auch da, wo ein geringes Maß hinlänglich genügte.
Er beweist damit, daß es ihm mehr um die Entfaltung ver-
blüffender Hexenkünſte zu thun iſt, als um wirklich künſt-
leriſches Geſtalten. Virtuoſität um ihrer ſelbſtwillen aber iſt
eine böſe Sache. Saraſate ſpielte Schuberts Phantaſie in C,
eine ſtark gewäſſerte Sonate für Violine und Klavier von
Saint-Saëns, Raffs „Liebesfee“ und zuletzt zwei unſäglich
triviale Sachen eigener Kompoſition. Das Raff’ſche Stück
gab er auch geiſtig tiefergehend wohl am beſten wieder. Seine
Partnerin am Klavier, Frau Berthe Marx, hat ſich, ſeit wir
ſie das letzte Mal hörten, wenig verändert. Sie iſt die
Meiſterin des brillanten Vortrags. Alles Techniſche beherrſcht
ſie mit wunderbarer Sicherheit und künſtleriſcher Verklärung.
Die kleinen, aber ſchwierigen Soloſtücke von Händel, Daquin
und Scarlatti entwarf ſie unnachahmlich klar in den Umriſſen.
Wenn ſie ſie nur nicht ſo ſehr in Eis gekühlt hätte! Erſt in
Chopins Barcarole und zwei Rhapſodien von Liſzt entwickelte
ſich die prickelnde Kohlenſäure. Das waren phänomenale
Leiſtungen, voll innerer treibender Kraft, großzügig, entzückend
fein detaillirt, Kabinetſtücke von Elaſtizität des Anſchlags
und der Auffaſſung. — In der III. Matinee von
Elfriede Schunck (Klavier), Emil Wagner (Violine) und
Hans Weber (Cello) gelangte außer den Trios in B (Peters,
Nr. 2) von Mozart und in Es op. 100 von Schubert eine
ſehr werthvolle Sonate für Cello und Klavier op. 15 von
Anton Beer zur Aufführung. Intenſive Ausdruckswärme
und gutgeprägte Themen ſind die Vorzüge dieſes Werks.
Der erſte Satz iſt durchwegs kräftig gehalten, ſtreift aber
zeitweilig auch durch ſchattige Gebiete. In der Durchführung
überwiegt die Arbeit die Phantaſie. Tiefer geht der Kom-
poniſt im marſchmäßigen Andante, dem er ein etwas leiden-
des, doch edles Geſangsthema zugrunde legt; im zweiten
Theil läßt er die gedämpften Streichinſtrumente einen viſio-
nären Blick in die Zukunft thun. Der Schlußſatz ſpiegelt
ſich auf romantiſchem Grund; er erzählt von frohem Ge-
nießen und blickt ſinnend in die ſonnige Landſchaft hinaus.
Frl. Schunck und Hr. Weber brachten die einzelnen Schön-
heiten des Werks mit hohem Verſtändniß und errangen
freundlichen Beifall. Ihre Wiedergabe der Trios, zu der ſich
der ausgezeichnete Geiger Hr. Wagner geſellte, zeigte von
neuem, wie wahrhaft tief die jungen Künſtler in den Geiſt
unſrer Klaſſiker ſchon eingedrungen ſind.
v. V. Wien, 17. März.
Ein heller Vorfrühlingstag
brachte heute die vom Kaiſer vollzogene Eröffnung der
27. Jahresausſtellung im Künſtlerhauſe. Selten
bot dieſe Eröffnung ein glänzenderes äußeres Bild: Reihen
von ſtolzen Equipagen, ein Beſucherzudrang zum Erſticken.
Architekt Urban hat die weiten, vielfachen Räume den Be-
dürfniſſen der Ausſtellung geſchickt angepaßt. Kein Zuviel
im Dekorativen, zweckmäßige Einbauten im Säulenhof
und im deutſchen Saale, hübſche diskrete Ziermuſter an den
Wänden. Die Münchener haben den Hauptantheil am Aus-
ſtellungsbilde. Sogleich in dem der Großplaſtik gewidmeten
Mittelraume begrüßen wir Rudolf Maiſons „Kaiſer Otto I.“
und die mächtigen Heroldreiter vom Berliner Reichstags-
palaſt in polychromiſchen Abgüſſen. Jef Lambeaux’ monu-
mentale Ringergruppe, Edmund v. Hofmanns Koloſſalfigur
Lionardo da Vinci’s in Mormor und eine Bildnißbüſte von
Zumbuſch verdienen beſonderes Intereſſe. Der Luitpold-
Gruppe wurden drei Säle, worunter der große franzöſiſche,
eingeräumt. Man bleibt zunächſt vor dem großen Bild der
Brüder Schuſter-Woldan und Firle’s „Heiliger Nacht“ ſtehen.
Im deutſchen Saal geben die Worpsweder die Note an.
Mackenſens eindrucksvolles Großbild „Die Scholle“ ſieht man
zum erſtenmal in Wien; Vinnen imponirt durch großgeſchante,
umfangreiche Landſchaften. Ein beſonderes Kabinet hat der
Capriccio-Maler Strathmann erhalten. Seine Kurioſa haben
ihr Publikum. Das Bildniß iſt durch Lenbach, den Ungarn
Laſzlo (Reichskanzler Fürſt Hohenlohe), Horovitz, Pochwalski,
Frau Roſenthal-Hatſchek (Erzherzog Eugen) vertreten; Pippich
bringt ſein großes Gefechtsbild „Bei Jajce“; unter den Land-
ſchaftern ſind Courtens (großes Herbſtbild), Schaeffer (Vor-
frühling) und die meiſten aus der jüngeren Schule: Zoff,
Wilt, Ameseder, Kaſparides, der auch ein mächtiges Figuren-
bild ausſtellt, Bamberger, Tomec hervorragend zu nennen;
Goltz’ „Vorüber“ hat Stimmung; die modernſte Note unter
den Landſchaften ſchlagen zwei Neue, Slavicek und Hudecek,
an. Während Paris aus naheliegenden Gründen ſich nur
ſehr mäßig betheiligte — die Damenbildniſſe de la Gandara’s
fallen am meiſten auf —, haben ſich die Engländer mit einer
ganzen Galerie eingefunden, welcher man den oberen Haupt-
ſaal eingeräumt hat. Wir kommen ſelbſtredend auf Sezeſſion
und Künſtlerhaus zurück.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-02-11T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |