Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 26. September 1914.26. September 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
zen aufhalten. Wäre es aber der Fall, so ist nicht einzusehen,warum diese Spione sich nur in einen der beiden Länder aufhalten und die für sie doch sehr unsichere Briefpost benutzen sollten. Die bayerische Postbehörde hat in diesen Tagen zum Beweise, Der Orient und der Weltkrieg. Als Lord Kitchener, der heutige diplomatische wie militärische Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimischer Inwieweit solche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung Kaum hatte sich die serbische Krise derartig zugespitzt, daß Wien Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen- Kitchener, der sich all solcher Gefahren, der Erhebung der 26. September 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
zen aufhalten. Wäre es aber der Fall, ſo iſt nicht einzuſehen,warum dieſe Spione ſich nur in einen der beiden Länder aufhalten und die für ſie doch ſehr unſichere Briefpoſt benutzen ſollten. Die bayeriſche Poſtbehörde hat in dieſen Tagen zum Beweiſe, Der Orient und der Weltkrieg. Als Lord Kitchener, der heutige diplomatiſche wie militäriſche Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimiſcher Inwieweit ſolche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung Kaum hatte ſich die ſerbiſche Kriſe derartig zugeſpitzt, daß Wien Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen- Kitchener, der ſich all ſolcher Gefahren, der Erhebung der <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0007" n="581"/><fw place="top" type="header">26. September 1914. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/><cb/> zen aufhalten. 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Noch immer brauchen Briefe<lb/> nach Oeſterreich faſt doppelt ſo lang, als die von dort an uns ge-<lb/> richteten, abgeſehen davon, daß die letzteren wie geſagt, anſtandslos<lb/> geſchloſſen und ohne Verletzung des Briefgeheimniſſes bei uns an-<lb/> kommen.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jComment" n="3"> <head> <hi rendition="#b">Der Orient und der Weltkrieg.</hi> </head><lb/> <p>Als Lord Kitchener, der heutige diplomatiſche wie militäriſche<lb/> Organiſator des britiſchen Heereszuges gegen Deutſchland, vor drei<lb/> Jahren ſein Amt eines Generalkonſuls in Kairo antrat, erſchien in<lb/> der engliſch-offiziöſen „Egyptian Gazette“ ein Aufſehen erregender<lb/> Artikel, der ſich ausführlich über die imperialiſtiſchen Ziele, die<lb/> Großbritannien vom Nilreich als Stütz- und Hebelpunkt aus zu ver-<lb/> folgen aufgegeben ſeien, verbreitete. Die eigentümliche Reklame für<lb/> den Sieger von Khartum als Schmied neuer Weltmachtgröße Al-<lb/> bions endete mit den Worten:</p><lb/> <cit> <quote>Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimiſcher<lb/> Untertanen Großbritanniens bedeuten würde, zu wiſſen, daß<lb/> dieſes die Schutzherrſchaft über ihre heiligen Anbetungsſtätten<lb/> genießt, ſo müſſen wir einfach daran denken, den gigantiſchen<lb/> Traum, der von vielen Aegyptern geteilt wird, zu verwirklichen.<lb/> Das ägyptiſche Reich der Vergangenheit könnte noch einmal<lb/> wieder aufgerichtet werden. Syrien und Paläſtina würden dem<lb/> Nilreich angegliedert und die Stämme des Jemen, die unauf-<lb/> hörlich gegen die Türkei revoltieren, wären bereit — ſie ſind<lb/> es ſchon heute — ſich England zu unterwerfen. ... Das<lb/> ägyptiſche Problem iſt eine Frage, die weite, unabſehbare Mög-<lb/> lichkeiten in ſich birgt; es iſt Großbritanniens ernſte Pflicht, ſich<lb/> energiſch mit ihrer Löſung zu befaſſen.“</quote> </cit><lb/> <p>Inwieweit ſolche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung<lb/> Kitcheners ſelbſt übereinſtimmten, kann dahingeſtellt bleiben; jeden-<lb/> falls bildet ihre Verlautbarung ein gerade jetzt überaus intereſſan-<lb/> tes Dokument zur Kennzeichnung der überſpannten Herrentums-<lb/> gedanken, denen England ſich im Reich des Islam hingegeben hat<lb/> und deren Saat die vom Weltkrieg erſchütterte Gegenwart in merk-<lb/> würdiger Weiſe aufgehen läßt. Heute beten die 90 Millionen Be-<lb/> kenner des Propheten und mehr in ihren Moſcheen öffentlich für<lb/> deutſche Siege, heute fühlt England bereits den ägyptiſchen Boden<lb/> unter ſeinen Füßen zittern, heute weiß London, daß alle ſeine Be-<lb/> mühungen, Konſtantinopel, wo der Nachfolger des Propheten thront,<lb/> auf ſeine Seite herüberzuziehen, vergeblich ſind, heute wird dem in<lb/> aller ſeiner gewiſſenloſen Geriebenheit und Schlauheit doch kurz-<lb/> ſichtigen Sir E. Grey immer klarer, daß, wie ſo viele Maſchen des<lb/> über die ganze Welt gebreiteten Netzes, in dem Deutſchland gefangen<lb/> und erſtickt werden ſollte, auch die orientaliſche Rechnung ſeiner Kata-<lb/> ſtrophenpolitik nicht ſtimmt.</p><lb/> <p>Kaum hatte ſich die ſerbiſche Kriſe derartig zugeſpitzt, daß Wien<lb/> ſeinen Geſandten aus Belgrad abberief, als der Petersburger Bot-<lb/> ſchafter in Konſtantinopel ſofort von der Hohen Pforte die Durch-<lb/> fahrt durch die Dardanellen für die ruſſiſche Schwarzmeer-Flotte<lb/> verlangte. Die Forderung wurde vom Großweſier Said Halim<lb/> Paſcha, trotzdem ſie der britiſche und franzöſiſche Botſchafter aufs<lb/> lebhafteſte unter allen möglichen Verſprechungen an die Türkei<lb/> unterſtützten, bündig und beſtimmt abgelehnt. Damit war der be-<lb/> ginnenden Uebertragung des europäiſchen Weltkriegsfiebers nach<lb/> dem Orient hin die charakteriſtiſche Note gegeben. Für Rußland<lb/> kam es bei ſeinem Verlangen natürlich zunächſt ſehr viel weniger<lb/> darauf an, die freie Fahrt ins Mittelmeer zu erlangen, wo es mit<lb/> ſeiner unmodernen und ſchwerfälligen Marinemacht doch wenig aus-<lb/> richten könnte, als Konſtantinopel ſelbſt in Schach zu ſetzen: der eitle<lb/> Traum, das griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia wiederaufzu-<lb/> richten und das alte Byzanz zum Bollwerk zwiſchen Weltallmacht zu<lb/> erheben, ſpukt ja noch immer als Endziel in der fantaſtiſchen Balkan-<lb/> politik des Allruſſentums. Für England hat die Dardanellenfrage<lb/> vor allem eine wirtſchaftliche, darum aber nicht minder gewichtige<lb/> Bedeutung. Seine jährliche Geſamteinfuhr an Lebensmitteln be-<lb/> trägt rund 182 Millionen Cwts. im Wert von 67 Millionen £,<lb/> wovon nicht weniger als ein Drittel, nämlich 64 Mill. Cwts. im<lb/><cb/> Wert von 21.5 Millionen £ auf die Schwarzmeer-Aegäiſche Ver-<lb/> kehrsſtraße entfallen; wird dieſe alſo für Getreidedampfer geſperrt<lb/> — und nach der Shipping and Mercantile Gazette iſt das bereits<lb/> der Fall — ſo ſieht ſich das Vereinigte Königreich einer der wichtig-<lb/> ſten unter ſeinen Nahrungsmittelquellen, die ohnehin infolge der<lb/> deutſchen Minenlegung und der allgemeinen Lähmung des britiſchen<lb/> Handels ſämtlich ſchwach und unregelmäßig fließen, vollſtändig be-<lb/> raubt. Als die Ententegenoſſen bei der Hohen Pforte nichts er-<lb/> reichen konnten, verſuchten ſie ihr Glück in Bukareſt und Sofia:<lb/> auch hier mit ſehr wenig oder doch zweifelhaftem Erfolg. Bulgarien<lb/> bleibt jedenfalls kühl ablehnend: es hat ja deutlich genug im Balkan-<lb/> krieg erfahren, was die ruſſiſche Freundſchaft wert iſt. Rumänien<lb/> iſt einſtweilen noch das große Fragezeichen auf der Hämushalbinſel.<lb/> Zwei Parteien ſtehen ſich gegenüber: die franzöſelnde des Kron-<lb/> prinzen und des derzeitigen Miniſteriums Porumbaru mit deſſen<lb/> Schildhaltern, der „Kulturliga“, die alte dreibundfreundliche des<lb/> Königs und des greiſen Führers Titu Majorescu. In einer ent-<lb/> ſcheidenden Miniſterſitzung hat König Karol kraft ſeiner ſachlichen<lb/> Darlegungen, daß Deutſchland und Oeſterreich-Ungarn allein fähig<lb/> wären, mit Frankreich und Rußland und deren Verbündeten fertig<lb/> zu werden, nochmals einen Sieg davongetragen, und es darf immer-<lb/> hin gehofft werden, daß er die Oberhand behält, zumal ihm die Tat-<lb/> ſachen immer mehr recht geben und kein Einſichtiger darüber im<lb/> Zweifel ſein kann, daß der Marſch zariſcher Truppen nach Konſtan-<lb/> tinopel oder über die transſilvaniſchen Alpen zur Entſetzung Ser-<lb/> biens über ein zum hülfloſen Leichnam gewordenes Rumänien er-<lb/> folgen würde.</p><lb/> <p>Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen-<lb/> tarer Gewalt an die Seite der deutſchen Mächte drängt, liegt klar<lb/> genug zu Tage. Die Feindſchaft zwiſchen dem osmaniſchen und<lb/> dem ruſſiſchen Reich iſt uralt und unauslöſchlich. Dadurch aber, daß<lb/> England als Sekundant der „Kulturarmeen“ des Zaren gegen das<lb/> „Deutſche Barbarentum“ auftritt, ſtößt es geradezu einen Dolch in<lb/> die Bruſt der Türkei, deſſen Spitze dieſe bisher nur drohend auf<lb/> ſich gerichtet geſehen und gefühlt hat. Die Taktik Londons gegen<lb/> die Hohe Pforte hat von jeher zwiſchen Zuckerbrot und Peitſche,<lb/> zwiſchen Liebeswerben, Scheinfreundſchaftsanträgen und offener und<lb/> heimlicher Befehdung geſchwankt. Das Ergebnis der wechſelnden<lb/> Behandlung war jedoch für das osmaniſche Reich ſtets dasſelbe:<lb/> immer ein Verluſt, bald an Gebiet, bald an politiſcher Bewegungs-<lb/> freiheit, bald an wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit. Aegypten wurde<lb/> unter ſchwerem Völker- und Vertragsrechtsbruch der Oberhoheit des<lb/> Sultans entriſſen, vom perſiſchen Golf und vom Roten Meer legte<lb/> der unerſättliche britiſche Imperialismus Minen gegen Arabien und<lb/> das Kalifat in dem Sinn, wie ihn jener Propagandaartikel aus Kit-<lb/> cheners Umgebung kennzeichnet, und durch ſeine Verbrüderung mit<lb/> Frankreich lieferte es den ganzen afrikaniſchen müslimiſchen Norden,<lb/> den der Padiſchah gleichfalls als ſein ſtaatskirchliches Schutzgebiet<lb/> anzuſehen gewohnt war, der Beutegier einer chriſtlichen Macht aus.</p><lb/> <p>Kitchener, der ſich all ſolcher Gefahren, der Erhebung der<lb/> Türkei und des ganzen Muſelmanentums gegen England bei der<lb/> erſten günſtigen Gelegenheit, wenn die britiſche Weltmacht in ihren<lb/> europäiſchen Stützpunkten bedroht würde, ſehr wohl bewußt war,<lb/> hat alles getan, um dieſen Drohungen von Aegypten aus, der zen-<lb/> tralen Zitadelle des engliſchen Imperiums im Orient, ein unerſchüt-<lb/> terliches Bollwerk entgegenzuſetzen. Er hat — alles natürlich ohne<lb/> Rückſicht auf die mit der Hohen Pforte eingegangenen Vertrags-<lb/> verpflichtungen — die ſchwache Beſatzungstruppe im Nilreich verſtärkt,<lb/> hat aus den regulären Verbänden in Südafrika, Malta und Aegyp-<lb/> ten ſelbſt eine 17. ſtets kriegsbereite Diviſion der „<hi rendition="#aq">expeditionary<lb/> forces</hi>“ mit dem beſonderen Zweck der Verteidigung Aegyptens<lb/> und ſeiner Grenzgebiete gebildet, hat den ganzen Sudan, ſoweit er<lb/> durch das Abkommen von 1889 zu einem zwitterhaften britiſch-khedi-<lb/> viſchen Kondominium gemacht wurde, zu einem feſt eingedämmten<lb/> Staubecken und wohlgefüllten Arſenal der militäriſchen und wirt-<lb/> ſchaftlichen Kräfte Englands derart ausgebaut, daß, wenn einmal<lb/> am unteren Nil eine innere Revolution die Regierung des fremden<lb/> Herrn ins Wanken brächte, das Land ſcheinbar dennoch hülflos zu<lb/> Füßen Albions läge, hat am ganzen Küſtenſaum, vor allem in So-<lb/> lum, Alexandrien, Port Sudan, Suakin neue Befeſtigungen ange-<lb/> legt, oder die vorhandenen verſtärkt, und hat ſchließlich dafür ge-<lb/> ſorgt, daß gemäß den bekannten Beſprechungen zwiſchen ihm, Sir<lb/> John Hamilton und Churchill in La Valetta der Beſtand der Mittel-<lb/> meerflotte verdoppelt, das Schlachtſchiffgeſchwader bei Gibraltar um<lb/> vier Einheiten, das Kreuzergeſchwader bei Malta um acht Einheiten<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [581/0007]
26. September 1914. Allgemeine Zeitung
zen aufhalten. Wäre es aber der Fall, ſo iſt nicht einzuſehen,
warum dieſe Spione ſich nur in einen der beiden Länder aufhalten
und die für ſie doch ſehr unſichere Briefpoſt benutzen ſollten.
Die bayeriſche Poſtbehörde hat in dieſen Tagen zum Beweiſe,
wie der Feldpoſt durch fehlerhafte und geradezu blödſinnige Adreſ-
ſen die Arbeit erſchwert wird, eine ſehr heitere Blumenleſe ver-
öffentlicht, die wirklich die beſte Verteidigung für ſie iſt. Möge ſie
nun aber auch mit dem ſonſtigen Briefverkehr innerhalb Deutſch-
lands und Oeſterreichs Ernſt machen. Noch immer brauchen Briefe
nach Oeſterreich faſt doppelt ſo lang, als die von dort an uns ge-
richteten, abgeſehen davon, daß die letzteren wie geſagt, anſtandslos
geſchloſſen und ohne Verletzung des Briefgeheimniſſes bei uns an-
kommen.
Der Orient und der Weltkrieg.
Als Lord Kitchener, der heutige diplomatiſche wie militäriſche
Organiſator des britiſchen Heereszuges gegen Deutſchland, vor drei
Jahren ſein Amt eines Generalkonſuls in Kairo antrat, erſchien in
der engliſch-offiziöſen „Egyptian Gazette“ ein Aufſehen erregender
Artikel, der ſich ausführlich über die imperialiſtiſchen Ziele, die
Großbritannien vom Nilreich als Stütz- und Hebelpunkt aus zu ver-
folgen aufgegeben ſeien, verbreitete. Die eigentümliche Reklame für
den Sieger von Khartum als Schmied neuer Weltmachtgröße Al-
bions endete mit den Worten:
Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimiſcher
Untertanen Großbritanniens bedeuten würde, zu wiſſen, daß
dieſes die Schutzherrſchaft über ihre heiligen Anbetungsſtätten
genießt, ſo müſſen wir einfach daran denken, den gigantiſchen
Traum, der von vielen Aegyptern geteilt wird, zu verwirklichen.
Das ägyptiſche Reich der Vergangenheit könnte noch einmal
wieder aufgerichtet werden. Syrien und Paläſtina würden dem
Nilreich angegliedert und die Stämme des Jemen, die unauf-
hörlich gegen die Türkei revoltieren, wären bereit — ſie ſind
es ſchon heute — ſich England zu unterwerfen. ... Das
ägyptiſche Problem iſt eine Frage, die weite, unabſehbare Mög-
lichkeiten in ſich birgt; es iſt Großbritanniens ernſte Pflicht, ſich
energiſch mit ihrer Löſung zu befaſſen.“
Inwieweit ſolche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung
Kitcheners ſelbſt übereinſtimmten, kann dahingeſtellt bleiben; jeden-
falls bildet ihre Verlautbarung ein gerade jetzt überaus intereſſan-
tes Dokument zur Kennzeichnung der überſpannten Herrentums-
gedanken, denen England ſich im Reich des Islam hingegeben hat
und deren Saat die vom Weltkrieg erſchütterte Gegenwart in merk-
würdiger Weiſe aufgehen läßt. Heute beten die 90 Millionen Be-
kenner des Propheten und mehr in ihren Moſcheen öffentlich für
deutſche Siege, heute fühlt England bereits den ägyptiſchen Boden
unter ſeinen Füßen zittern, heute weiß London, daß alle ſeine Be-
mühungen, Konſtantinopel, wo der Nachfolger des Propheten thront,
auf ſeine Seite herüberzuziehen, vergeblich ſind, heute wird dem in
aller ſeiner gewiſſenloſen Geriebenheit und Schlauheit doch kurz-
ſichtigen Sir E. Grey immer klarer, daß, wie ſo viele Maſchen des
über die ganze Welt gebreiteten Netzes, in dem Deutſchland gefangen
und erſtickt werden ſollte, auch die orientaliſche Rechnung ſeiner Kata-
ſtrophenpolitik nicht ſtimmt.
Kaum hatte ſich die ſerbiſche Kriſe derartig zugeſpitzt, daß Wien
ſeinen Geſandten aus Belgrad abberief, als der Petersburger Bot-
ſchafter in Konſtantinopel ſofort von der Hohen Pforte die Durch-
fahrt durch die Dardanellen für die ruſſiſche Schwarzmeer-Flotte
verlangte. Die Forderung wurde vom Großweſier Said Halim
Paſcha, trotzdem ſie der britiſche und franzöſiſche Botſchafter aufs
lebhafteſte unter allen möglichen Verſprechungen an die Türkei
unterſtützten, bündig und beſtimmt abgelehnt. Damit war der be-
ginnenden Uebertragung des europäiſchen Weltkriegsfiebers nach
dem Orient hin die charakteriſtiſche Note gegeben. Für Rußland
kam es bei ſeinem Verlangen natürlich zunächſt ſehr viel weniger
darauf an, die freie Fahrt ins Mittelmeer zu erlangen, wo es mit
ſeiner unmodernen und ſchwerfälligen Marinemacht doch wenig aus-
richten könnte, als Konſtantinopel ſelbſt in Schach zu ſetzen: der eitle
Traum, das griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia wiederaufzu-
richten und das alte Byzanz zum Bollwerk zwiſchen Weltallmacht zu
erheben, ſpukt ja noch immer als Endziel in der fantaſtiſchen Balkan-
politik des Allruſſentums. Für England hat die Dardanellenfrage
vor allem eine wirtſchaftliche, darum aber nicht minder gewichtige
Bedeutung. Seine jährliche Geſamteinfuhr an Lebensmitteln be-
trägt rund 182 Millionen Cwts. im Wert von 67 Millionen £,
wovon nicht weniger als ein Drittel, nämlich 64 Mill. Cwts. im
Wert von 21.5 Millionen £ auf die Schwarzmeer-Aegäiſche Ver-
kehrsſtraße entfallen; wird dieſe alſo für Getreidedampfer geſperrt
— und nach der Shipping and Mercantile Gazette iſt das bereits
der Fall — ſo ſieht ſich das Vereinigte Königreich einer der wichtig-
ſten unter ſeinen Nahrungsmittelquellen, die ohnehin infolge der
deutſchen Minenlegung und der allgemeinen Lähmung des britiſchen
Handels ſämtlich ſchwach und unregelmäßig fließen, vollſtändig be-
raubt. Als die Ententegenoſſen bei der Hohen Pforte nichts er-
reichen konnten, verſuchten ſie ihr Glück in Bukareſt und Sofia:
auch hier mit ſehr wenig oder doch zweifelhaftem Erfolg. Bulgarien
bleibt jedenfalls kühl ablehnend: es hat ja deutlich genug im Balkan-
krieg erfahren, was die ruſſiſche Freundſchaft wert iſt. Rumänien
iſt einſtweilen noch das große Fragezeichen auf der Hämushalbinſel.
Zwei Parteien ſtehen ſich gegenüber: die franzöſelnde des Kron-
prinzen und des derzeitigen Miniſteriums Porumbaru mit deſſen
Schildhaltern, der „Kulturliga“, die alte dreibundfreundliche des
Königs und des greiſen Führers Titu Majorescu. In einer ent-
ſcheidenden Miniſterſitzung hat König Karol kraft ſeiner ſachlichen
Darlegungen, daß Deutſchland und Oeſterreich-Ungarn allein fähig
wären, mit Frankreich und Rußland und deren Verbündeten fertig
zu werden, nochmals einen Sieg davongetragen, und es darf immer-
hin gehofft werden, daß er die Oberhand behält, zumal ihm die Tat-
ſachen immer mehr recht geben und kein Einſichtiger darüber im
Zweifel ſein kann, daß der Marſch zariſcher Truppen nach Konſtan-
tinopel oder über die transſilvaniſchen Alpen zur Entſetzung Ser-
biens über ein zum hülfloſen Leichnam gewordenes Rumänien er-
folgen würde.
Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen-
tarer Gewalt an die Seite der deutſchen Mächte drängt, liegt klar
genug zu Tage. Die Feindſchaft zwiſchen dem osmaniſchen und
dem ruſſiſchen Reich iſt uralt und unauslöſchlich. Dadurch aber, daß
England als Sekundant der „Kulturarmeen“ des Zaren gegen das
„Deutſche Barbarentum“ auftritt, ſtößt es geradezu einen Dolch in
die Bruſt der Türkei, deſſen Spitze dieſe bisher nur drohend auf
ſich gerichtet geſehen und gefühlt hat. Die Taktik Londons gegen
die Hohe Pforte hat von jeher zwiſchen Zuckerbrot und Peitſche,
zwiſchen Liebeswerben, Scheinfreundſchaftsanträgen und offener und
heimlicher Befehdung geſchwankt. Das Ergebnis der wechſelnden
Behandlung war jedoch für das osmaniſche Reich ſtets dasſelbe:
immer ein Verluſt, bald an Gebiet, bald an politiſcher Bewegungs-
freiheit, bald an wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit. Aegypten wurde
unter ſchwerem Völker- und Vertragsrechtsbruch der Oberhoheit des
Sultans entriſſen, vom perſiſchen Golf und vom Roten Meer legte
der unerſättliche britiſche Imperialismus Minen gegen Arabien und
das Kalifat in dem Sinn, wie ihn jener Propagandaartikel aus Kit-
cheners Umgebung kennzeichnet, und durch ſeine Verbrüderung mit
Frankreich lieferte es den ganzen afrikaniſchen müslimiſchen Norden,
den der Padiſchah gleichfalls als ſein ſtaatskirchliches Schutzgebiet
anzuſehen gewohnt war, der Beutegier einer chriſtlichen Macht aus.
Kitchener, der ſich all ſolcher Gefahren, der Erhebung der
Türkei und des ganzen Muſelmanentums gegen England bei der
erſten günſtigen Gelegenheit, wenn die britiſche Weltmacht in ihren
europäiſchen Stützpunkten bedroht würde, ſehr wohl bewußt war,
hat alles getan, um dieſen Drohungen von Aegypten aus, der zen-
tralen Zitadelle des engliſchen Imperiums im Orient, ein unerſchüt-
terliches Bollwerk entgegenzuſetzen. Er hat — alles natürlich ohne
Rückſicht auf die mit der Hohen Pforte eingegangenen Vertrags-
verpflichtungen — die ſchwache Beſatzungstruppe im Nilreich verſtärkt,
hat aus den regulären Verbänden in Südafrika, Malta und Aegyp-
ten ſelbſt eine 17. ſtets kriegsbereite Diviſion der „expeditionary
forces“ mit dem beſonderen Zweck der Verteidigung Aegyptens
und ſeiner Grenzgebiete gebildet, hat den ganzen Sudan, ſoweit er
durch das Abkommen von 1889 zu einem zwitterhaften britiſch-khedi-
viſchen Kondominium gemacht wurde, zu einem feſt eingedämmten
Staubecken und wohlgefüllten Arſenal der militäriſchen und wirt-
ſchaftlichen Kräfte Englands derart ausgebaut, daß, wenn einmal
am unteren Nil eine innere Revolution die Regierung des fremden
Herrn ins Wanken brächte, das Land ſcheinbar dennoch hülflos zu
Füßen Albions läge, hat am ganzen Küſtenſaum, vor allem in So-
lum, Alexandrien, Port Sudan, Suakin neue Befeſtigungen ange-
legt, oder die vorhandenen verſtärkt, und hat ſchließlich dafür ge-
ſorgt, daß gemäß den bekannten Beſprechungen zwiſchen ihm, Sir
John Hamilton und Churchill in La Valetta der Beſtand der Mittel-
meerflotte verdoppelt, das Schlachtſchiffgeſchwader bei Gibraltar um
vier Einheiten, das Kreuzergeſchwader bei Malta um acht Einheiten
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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