Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 2. Mai 1920.2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Shakespeare, liegt auch über Wolframs persönliche Schick-sale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigste literarische Forschung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über sein Leben wissen, ist die Dürftigkeit selber. Um 1170 herum mochte er geboren sein zu Eschenbach Französisch waren die Quellen, aus denen Wolfram Den unübersehbar handlungsreichen Inhalt des Par- Aber es ist bezeichnend: der religiöse Sinn führte den Genug, wir hier im deutschen Süden dürfen stolz sein Hugo von Trinebergs schönes Wort über den unver- "swer des vergaeze, der taet mir leide." Thomas Mann. In Thomas Manns Adern eint sich feste norddeutsche Von der ersten Zeile an wurde sein Schaffen die Stimme *) In der Ursprache ist gerade Wolfram nur dem guten
Kenner des Mittelhochdeutschen verständlich, doch haben wir seit mehr als zwanzig Jahren die meisterhafte Uebersetzung des Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber- tragung des Originales würdig zu nennen ist. 2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Shakeſpeare, liegt auch über Wolframs perſönliche Schick-ſale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigſte literariſche Forſchung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über ſein Leben wiſſen, iſt die Dürftigkeit ſelber. Um 1170 herum mochte er geboren ſein zu Eſchenbach Franzöſiſch waren die Quellen, aus denen Wolfram Den unüberſehbar handlungsreichen Inhalt des Par- Aber es iſt bezeichnend: der religiöſe Sinn führte den Genug, wir hier im deutſchen Süden dürfen ſtolz ſein Hugo von Trinebergs ſchönes Wort über den unver- „ſwer des vergaeze, der taet mir leide.“ Thomas Mann. In Thomas Manns Adern eint ſich feſte norddeutſche Von der erſten Zeile an wurde ſein Schaffen die Stimme *) In der Urſprache iſt gerade Wolfram nur dem guten
Kenner des Mittelhochdeutſchen verſtändlich, doch haben wir ſeit mehr als zwanzig Jahren die meiſterhafte Ueberſetzung des Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber- tragung des Originales würdig zu nennen iſt. <TEI> <text> <body> <div type="jVarious" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <p><pb facs="#f0009" n="Seite 167[167]"/><fw place="top" type="header">2. Mai 1920 <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/><cb/> Shakeſpeare, liegt auch über Wolframs perſönliche Schick-<lb/> ſale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigſte literariſche<lb/> Forſchung nicht zu heben vermocht hat. 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Mag ſomit auch der Stoff des Parzifal — wie<lb/> der der meiſten andern mittelhochdeutſchen Kunſtepen —<lb/> weniger dem nationalen Sonderleben als dem internatio-<lb/> nalen Kreiſe des chriſtlichen Rittertums angehören, ſo iſt<lb/> dieſe Dichtung doch ſo tief durchtränkt von deutſchem Ge-<lb/> müt und Gedankenadel, ſo neugeſtaltet aus genialem Geiſt,<lb/> daß ſie als echtes Werk unſerer Literatur gelten darf. Was<lb/> Wolfram in dem Artusroman vorfand, war (nach Wacker-<lb/> nagels Wort) ein „planloſes Gewirr von Namen und Aben-<lb/> teuern“. Es fehlte noch die religiöſe Tiefe, es fehlte die<lb/> verbindende höhere Idee, es fehlte vor allem jener Zug des<lb/> allgemein Menſchlichen, der das Lokale und Individuelle<lb/> zum Typiſchen, das Zufällige zum Notwendigen erhebt, es<lb/> fehlte mit einem Wort all das, was wir heute noch nach<lb/> ſiebenhundert Jahren an Parzifal bewundern, als ſein<lb/> Eigentümlichſtes und Höchſtes. 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Jahrhun-<lb/> dert in Wieland und Klopſtock einen ſchwachen Abglanz die-<lb/> ſes Verhältniſſes zweier Zeitgenoſſen aufleuchten.)</p><lb/> <p>Aber es iſt bezeichnend: der religiöſe Sinn führte den<lb/> Dichter (wie beſonders der Willehalm zeigt) nicht zu un-<lb/> chriſtlichem Fanatismus, der die Vernichtung des Heiden<lb/><cb/> z. B. für ein gottgefälliges Werk anſah: Wie ſehr er auch<lb/> von der Wahrheit ſeines Glaubens durchdrungen war, er<lb/> fordert verſtehende Duldung der Andersgläubigen und An-<lb/> erkennung der Menſchenrechte. Dieſe edle Weltanſchauung<lb/> ſchon ſo tief im Mittelalter verkündet zu finden, möchte<lb/> überraſchen, wenn anders uns am wahren Genius etwas<lb/> überraſchen dürfte. Jedenfalls iſt gerade hier für uns<lb/> Moderne auf immer die Brücke geſchlagen zu dieſem gott-<lb/> begnadeten Dichter. Mit mehr als einem Gedanken berührt<lb/> ſich übrigens Wolfram mit keinem Geringeren als Goethe.<lb/> Doch hier im einzelnen darauf einzugehen iſt nicht der Ort.</p><lb/> <p>Genug, wir hier im deutſchen Süden dürfen ſtolz ſein<lb/> auf unſern Wolfram; es iſt ja nicht der einzige Bayer aus<lb/> jener Blütezeit der deutſchen Dichtung, deſſen Ruhm weit<lb/> über die Grenzen ſeines Stammlandes drang: der Dichter<lb/> der Nibelungen, des Kudrunliedes und vor allem der größte<lb/> vorgoetheſche Lyriker, Walther von der Vogelweide, ſie alle<lb/> — ob ihre Wiege im Altmühltale ſtand oder am Brenner,<lb/> am Donauſtrom oder im Tal der Etſch —, ſie gehören zu<lb/> unſerm Stamm, ohne den nicht nur die deutſche Geſchichte,<lb/> ohne den auch das deutſche Schrifttum gar nicht denkbar iſt!<lb/> Dort auf der Wartburg, wo er ſein Meiſterwerk ſchuf, im<lb/> Herzen Thüringens, ſchrieb der fränkiſche Wolfram ſtolz<lb/> ſeine Worte „wir Beier“ (Parzifal Vers 3594).</p><lb/> <p>Hugo von Trinebergs ſchönes Wort über den unver-<lb/> gleichlichen Walther, wir wollen es auch von Wolfram,<lb/> ſeinem ebenbürtigen Zeitgenoſſen ſagen:</p><lb/> <p>„ſwer des vergaeze, der taet mir leide.“</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Thomas Mann.</hi> </hi> </head><lb/> <byline> <hi rendition="#c">Von Hanns Martin <hi rendition="#g">Elſter.</hi></hi> </byline><lb/> <p>In Thomas Manns Adern eint ſich feſte norddeutſche<lb/> Kultur und lockere, loſe kreoliſche Leidenſchaft. 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Das Urleid des Daſeins ward von der ſen-<lb/> ſiblen Genialität des Jünglings im Kampf mit den bürger-<lb/> lichen Mächten der Heimat als Lebensgeſetz <hi rendition="#g">erlebt,</hi> nicht<lb/> nur erkannt, und damit Unterſtrömung ſeiner Werke, bis<lb/> in die Auffaſſung vom Tode als dem Erlöſer von der Qual<lb/> dieſes Daſeins, bis in die Stellung zur Muſik hinein, die<lb/> ſich in ſo zahlreichen muſikaliſchen Szenen der Werke kund-<lb/> gibt. Letzte Rettung vor der Gefahr, durch den Peſſimismus<lb/> erdrückt zu werden, brachte einzig der ſchaffende Inſtinkt,<lb/> das Künſtlertum. Es ward nicht im romantiſchen Lichte<lb/> geſehen, ſondern in der Beleuchtung des Pſychologen, des<lb/> Intellekts. Die Künſtler ſind für Mann Menſchen, die<lb/> den Trug des Lebens durchſchauen und nicht mehr<lb/> den blinden Geboten des Willens zum Leben unter-<lb/> worfen ſind. Sie ſind Einſame unter den Mitmenſchen,<lb/> mit dem Fluch und dem Leid des „Andersſeins“ als die<lb/> Alltagsmenſchen belaſtet, und gelangen deshalb nie zum<lb/> Glücksgefühl im Lebenszuſtand. Wohl gibt es eine Glücks-<lb/> möglichkeit, aber nach Manns Anſchauung nur unter denen,<lb/> die „möglichſt wenig von der Erkenntnis berührt, von des<lb/> Gedankens Bläſſe angekränkelt ſind, die das Leben ſtark,<lb/> kräftig, mit naiver, urſprünglicher Sicherheit und Unbe-<lb/> fangenheit führen“. Nietzſche pries dieſe unbefangenen, un-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [Seite 167[167]/0009]
2. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Shakeſpeare, liegt auch über Wolframs perſönliche Schick-
ſale ein Schleier gebreitet, den auch eifrigſte literariſche
Forſchung nicht zu heben vermocht hat. Was wir über ſein
Leben wiſſen, iſt die Dürftigkeit ſelber.
Um 1170 herum mochte er geboren ſein zu Eſchenbach
(bei Ansbach) und dortſelbſt oder im nahen Weiler Wilden-
berg hat er wohl den größten Teil ſeines Lebens verbracht
als armer ritterlicher Lehensmann eines Grafen Wertheim.
Indeſſen lebte er eine Zeitlang als Gaſt des literaturkun-
digen Thüringer Landgrafen Hermann zu Eiſenach und dort
— wahrſcheinlich zwiſchen 1205 und 1215 — ſchrieb er ſein
Lebenswerk, oder vielmehr er diktierte es einem Schreiber,
denn er ſelbſt konnte weder leſen noch ſchreiben. Bald nach
Vollendung des Parzifal — wie man annimmt ums Jahr
1220 — ſtarb er, ehe er noch ſeine beiden andern großen
Werke Willehalm und Titurel vollenden konnte.
Franzöſiſch waren die Quellen, aus denen Wolfram
ſchöpfte. Mag ſomit auch der Stoff des Parzifal — wie
der der meiſten andern mittelhochdeutſchen Kunſtepen —
weniger dem nationalen Sonderleben als dem internatio-
nalen Kreiſe des chriſtlichen Rittertums angehören, ſo iſt
dieſe Dichtung doch ſo tief durchtränkt von deutſchem Ge-
müt und Gedankenadel, ſo neugeſtaltet aus genialem Geiſt,
daß ſie als echtes Werk unſerer Literatur gelten darf. Was
Wolfram in dem Artusroman vorfand, war (nach Wacker-
nagels Wort) ein „planloſes Gewirr von Namen und Aben-
teuern“. Es fehlte noch die religiöſe Tiefe, es fehlte die
verbindende höhere Idee, es fehlte vor allem jener Zug des
allgemein Menſchlichen, der das Lokale und Individuelle
zum Typiſchen, das Zufällige zum Notwendigen erhebt, es
fehlte mit einem Wort all das, was wir heute noch nach
ſiebenhundert Jahren an Parzifal bewundern, als ſein
Eigentümlichſtes und Höchſtes. Nur das Genie kann derart
den rohen Stoff adeln und ihm unvergängliches Leben ein-
hauchen. So verlieh erſt ein Goethe der alten Fauſtſage
den ewigen Gehalt und die klaſſiſche Form, ſo ein Syake-
ſpeare dem Sammelſurium kümmerlicher Hof- und Liebes-
hiſtorien den tief menſchlichen Zug, ohne den ſie längſt ver-
ſchollen wären.
Den unüberſehbar handlungsreichen Inhalt des Par-
zifal in wenigen Zeilen zu erzählen iſt nicht möglich und
würde auch keineswegs dem, der ſie noch nicht kennt, einen
Begriff von der ſprachgewaltigen, tiefſinnigen, von der Idee
der ſeeliſchen Läuterung dunkel durchglühten Dichtung
geben. Aus tumpheit durch Zwifel zur ſaelde geht der Weg
Parzifals. Aus kindlicher Einfalt und jungendlicher Unbe-
ſonnenheit durch wilden Zwieſpalt mit Gott, mit der Welt,
mit ſich ſelbſt zum großen Ziel der Seligkeit, des wahren
Glückes, das in der Lauterkeit und Reinheit des ſich ſelbſt
treu bleibenden Herzens beſteht. Das iſt die innere Ent-
wicklung des Helden, dem Wolfram, wie jeder echte Dichter
ſeinem Geſchöpfe, Züge ſeines eigenen Weſens und Wan-
delns verliehen. Wolframs ſittliches Ideal iſt die Treue,
dieſes alte Kleinod des unverdorbenen Deutſchtums. Sie iſt
ihm der Inbegriff aller edleren Regungen der Seele, der
Schutzſchild gegen alle Gefahren der Welt und Verlockungen
der Sünde. Dieſer Zug macht Wolframs Dichtung ſo weihe-
voll, macht ſie zum erquickenden Borne, aus dem wir in
Zeiten der Not, innerer wie äußerer, Mut und Zuverſicht
ſchöpfen können. *) Während ſein großer Antipode Gott-
fried von Straßburg, ganz von weltlichem Sinne beherrſcht
erſcheint und das Recht der ſchönen Sinnlichkeit predigte,
ſehen wir Wolfram von tiefſtem Ethos erfüllt, das die auf-
richtige Einkehr des denkenden Menſchen in das eigene
Innere unweigerlich fordert. (Wir ſehen im 18. Jahrhun-
dert in Wieland und Klopſtock einen ſchwachen Abglanz die-
ſes Verhältniſſes zweier Zeitgenoſſen aufleuchten.)
Aber es iſt bezeichnend: der religiöſe Sinn führte den
Dichter (wie beſonders der Willehalm zeigt) nicht zu un-
chriſtlichem Fanatismus, der die Vernichtung des Heiden
z. B. für ein gottgefälliges Werk anſah: Wie ſehr er auch
von der Wahrheit ſeines Glaubens durchdrungen war, er
fordert verſtehende Duldung der Andersgläubigen und An-
erkennung der Menſchenrechte. Dieſe edle Weltanſchauung
ſchon ſo tief im Mittelalter verkündet zu finden, möchte
überraſchen, wenn anders uns am wahren Genius etwas
überraſchen dürfte. Jedenfalls iſt gerade hier für uns
Moderne auf immer die Brücke geſchlagen zu dieſem gott-
begnadeten Dichter. Mit mehr als einem Gedanken berührt
ſich übrigens Wolfram mit keinem Geringeren als Goethe.
Doch hier im einzelnen darauf einzugehen iſt nicht der Ort.
Genug, wir hier im deutſchen Süden dürfen ſtolz ſein
auf unſern Wolfram; es iſt ja nicht der einzige Bayer aus
jener Blütezeit der deutſchen Dichtung, deſſen Ruhm weit
über die Grenzen ſeines Stammlandes drang: der Dichter
der Nibelungen, des Kudrunliedes und vor allem der größte
vorgoetheſche Lyriker, Walther von der Vogelweide, ſie alle
— ob ihre Wiege im Altmühltale ſtand oder am Brenner,
am Donauſtrom oder im Tal der Etſch —, ſie gehören zu
unſerm Stamm, ohne den nicht nur die deutſche Geſchichte,
ohne den auch das deutſche Schrifttum gar nicht denkbar iſt!
Dort auf der Wartburg, wo er ſein Meiſterwerk ſchuf, im
Herzen Thüringens, ſchrieb der fränkiſche Wolfram ſtolz
ſeine Worte „wir Beier“ (Parzifal Vers 3594).
Hugo von Trinebergs ſchönes Wort über den unver-
gleichlichen Walther, wir wollen es auch von Wolfram,
ſeinem ebenbürtigen Zeitgenoſſen ſagen:
„ſwer des vergaeze, der taet mir leide.“
Thomas Mann.
Von Hanns Martin Elſter.
In Thomas Manns Adern eint ſich feſte norddeutſche
Kultur und lockere, loſe kreoliſche Leidenſchaft. Aus bür-
gerlichem Hauſe entſtammend, ward er dem Künſtlertum
anheimgegeben, ohne freilich dieſem ausſchließlich angehören
zu können, ſondern mit ſtets lebendigem Heimweh nach
dem verlorenen einfachen, tatſächlichen Sein. Der Zwie-
ſpalt ſeines Daſeins blieb: die Sehnſucht nach bürgerlicher
Menſchlichkeit, dem Erbe ſeiner Väter, aus der Problematik
alles Künſtlertums heraus.
Von der erſten Zeile an wurde ſein Schaffen die Stimme
dieſer Sehnſucht. Sie vertiefte ſich immer bedeutender. Sie
wich aber nie aus dem Melodienkreiſe ihrer Schwermut,
die ſich um ſo laſtender auf ihn niederſenkte, als das
Künſtlertum nicht den Sinn des Lebens offenbarte, als
der Glaube an das Künſtlertum nicht feſt werden wollte,
woran die bürgerliche Menſchlichkeit in ſeinem Innern
hinderte. Das Ringen um Weltklarheit und -anſchauung
klammerte ſich, der ſkeptiſchen Veranlagung gemäß, an
Schopenhauer. Das Urleid des Daſeins ward von der ſen-
ſiblen Genialität des Jünglings im Kampf mit den bürger-
lichen Mächten der Heimat als Lebensgeſetz erlebt, nicht
nur erkannt, und damit Unterſtrömung ſeiner Werke, bis
in die Auffaſſung vom Tode als dem Erlöſer von der Qual
dieſes Daſeins, bis in die Stellung zur Muſik hinein, die
ſich in ſo zahlreichen muſikaliſchen Szenen der Werke kund-
gibt. Letzte Rettung vor der Gefahr, durch den Peſſimismus
erdrückt zu werden, brachte einzig der ſchaffende Inſtinkt,
das Künſtlertum. Es ward nicht im romantiſchen Lichte
geſehen, ſondern in der Beleuchtung des Pſychologen, des
Intellekts. Die Künſtler ſind für Mann Menſchen, die
den Trug des Lebens durchſchauen und nicht mehr
den blinden Geboten des Willens zum Leben unter-
worfen ſind. Sie ſind Einſame unter den Mitmenſchen,
mit dem Fluch und dem Leid des „Andersſeins“ als die
Alltagsmenſchen belaſtet, und gelangen deshalb nie zum
Glücksgefühl im Lebenszuſtand. Wohl gibt es eine Glücks-
möglichkeit, aber nach Manns Anſchauung nur unter denen,
die „möglichſt wenig von der Erkenntnis berührt, von des
Gedankens Bläſſe angekränkelt ſind, die das Leben ſtark,
kräftig, mit naiver, urſprünglicher Sicherheit und Unbe-
fangenheit führen“. Nietzſche pries dieſe unbefangenen, un-
*) In der Urſprache iſt gerade Wolfram nur dem guten
Kenner des Mittelhochdeutſchen verſtändlich, doch haben wir ſeit
mehr als zwanzig Jahren die meiſterhafte Ueberſetzung des
Parzifals durch Wilhelm Hertz, die mehr als jede andere Ueber-
tragung des Originales würdig zu nennen iſt.
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(2020-10-02T09:49:36Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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