Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891.Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nach¬ -- ist der Wind nicht ein Hund? Er winselt, er Wie sie eben nüchtern spricht, diese trunkene -- ihr Weh käut sie zurück, im Traume, die alte 9. Du Weinstock! Was preisest du mich! Ich schnitt "Was vollkommen ward, alles Reife -- will sterben! Weh spricht: "Vergeh! Weg, du Wehe!" Aber -- sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, -- Lust Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nach¬ — ist der Wind nicht ein Hund? Er winselt, er Wie sie eben nüchtern spricht, diese trunkene — ihr Weh käut sie zurück, im Traume, die alte 9. Du Weinstock! Was preisest du mich! Ich schnitt „Was vollkommen ward, alles Reife — will sterben! Weh spricht: „Vergeh! Weg, du Wehe!“ Aber — sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, — Lust <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0133" n="126"/> <p>Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nach¬<lb/> mittag! Nun kam Abend und Nacht und Mitternacht,<lb/> — der Hund heult, der Wind:</p><lb/> <p>— ist der Wind nicht ein Hund? Er winselt, er<lb/> kläfft, er heult. Ach! Ach! wie sie seufzt! wie sie<lb/> lacht, wie sie röchelt und keucht, die Mitternacht!</p><lb/> <p>Wie sie eben nüchtern spricht, diese trunkene<lb/> Dichterin! sie übertrank wohl ihre Trunkenheit? sie<lb/> wurde überwach? sie käut zurück?</p><lb/> <p>— ihr Weh käut sie zurück, im Traume, die alte<lb/> tiefe Mitternacht, und mehr noch ihre Lust. Lust nämlich,<lb/> wenn schon Weh tief ist: <hi rendition="#g">Lust ist tiefer noch als<lb/> Herzeleid</hi>.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> <div n="2"> <head>9.<lb/></head> <p>Du Weinstock! Was preisest du mich! Ich schnitt<lb/> dich doch! Ich bin grausam, du blutest —: was will<lb/> dein Lob meiner trunkenen Grausamkeit?</p><lb/> <p>„Was vollkommen ward, alles Reife — will sterben!<lb/> so redest du. Gesegnet, gesegnet sei das Winzermesser!<lb/> Aber alles Unreife will leben: wehe!</p><lb/> <p>Weh spricht: „Vergeh! Weg, du Wehe!“ Aber<lb/> Alles, was leidet, will leben, dass es reif werde und<lb/> lustig und sehnsüchtig,</p><lb/> <p>— sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem.<lb/> „Ich will Erben, so spricht Alles, was leidet, ich will<lb/> Kinder, ich will nicht <hi rendition="#g">mich</hi>,“ —</p><lb/> <p>Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, — Lust<lb/> will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will<lb/> Alles-sich-ewig-gleich.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0133]
Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nach¬
mittag! Nun kam Abend und Nacht und Mitternacht,
— der Hund heult, der Wind:
— ist der Wind nicht ein Hund? Er winselt, er
kläfft, er heult. Ach! Ach! wie sie seufzt! wie sie
lacht, wie sie röchelt und keucht, die Mitternacht!
Wie sie eben nüchtern spricht, diese trunkene
Dichterin! sie übertrank wohl ihre Trunkenheit? sie
wurde überwach? sie käut zurück?
— ihr Weh käut sie zurück, im Traume, die alte
tiefe Mitternacht, und mehr noch ihre Lust. Lust nämlich,
wenn schon Weh tief ist: Lust ist tiefer noch als
Herzeleid.
9.
Du Weinstock! Was preisest du mich! Ich schnitt
dich doch! Ich bin grausam, du blutest —: was will
dein Lob meiner trunkenen Grausamkeit?
„Was vollkommen ward, alles Reife — will sterben!
so redest du. Gesegnet, gesegnet sei das Winzermesser!
Aber alles Unreife will leben: wehe!
Weh spricht: „Vergeh! Weg, du Wehe!“ Aber
Alles, was leidet, will leben, dass es reif werde und
lustig und sehnsüchtig,
— sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem.
„Ich will Erben, so spricht Alles, was leidet, ich will
Kinder, ich will nicht mich,“ —
Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, — Lust
will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will
Alles-sich-ewig-gleich.
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Zitationshilfe: | Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891/133>, abgerufen am 22.02.2025. |