in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬ natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬ deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬ werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬ künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: "Ihr stürzt nie¬ der, Millionen!"
2.
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬ satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬ lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬ volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬ mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler "Nachahmer", und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬ lich -- wie beispielsweise in der griechischen Tragödie -- zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen
in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬ natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬ deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬ werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬ künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nie¬ der, Millionen!«
2.
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬ satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬ lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬ volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬ mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler »Nachahmer«, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬ lich — wie beispielsweise in der griechischen Tragödie — zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen
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in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die
Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde
Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬
natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so
verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬
deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬
werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur
höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich
hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon,
der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der
Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬
künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nie¬
der, Millionen!«
2.
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬
satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet,
die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen
Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe
zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die
Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden
Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬
lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬
volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet,
sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine
mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬
mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder
Künstler »Nachahmer«, und zwar entweder apollinischer
Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬
lich — wie beispielsweise in der griechischen Tragödie —
zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/19>, abgerufen am 22.02.2025.
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