Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die 2. Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬ in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die 2. Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0019" n="6"/> in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die<lb/> Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde<lb/> Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬<lb/> natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so<lb/> verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬<lb/> deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬<lb/> werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur<lb/> höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich<lb/> hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon,<lb/> der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der<lb/> Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬<lb/> künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nie¬<lb/> der, Millionen!«</p><lb/> </div> <div n="1"> <head>2.<lb/></head> <p>Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬<lb/> satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet,<lb/> die aus der Natur selbst, <hi rendition="#i">ohne Vermittelung des menschlichen<lb/> Künstlers</hi>, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe<lb/> zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die<lb/> Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden<lb/> Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬<lb/> lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬<lb/> volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet,<lb/> sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine<lb/> mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬<lb/> mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder<lb/> Künstler »Nachahmer«, und zwar entweder apollinischer<lb/> Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬<lb/> lich — wie beispielsweise in der griechischen Tragödie —<lb/> zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir<lb/> uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [6/0019]
in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die
Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde
Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬
natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so
verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬
deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬
werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur
höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich
hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon,
der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der
Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬
künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nie¬
der, Millionen!«
2.
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬
satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet,
die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen
Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe
zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die
Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden
Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬
lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬
volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet,
sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine
mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬
mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder
Künstler »Nachahmer«, und zwar entweder apollinischer
Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬
lich — wie beispielsweise in der griechischen Tragödie —
zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir
uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen
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