Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich
darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens,
vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer
romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er
nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem
überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine
auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann
brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt,
wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr
sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten
zu können, wohin sie will?

20.

Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen
Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen
Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu
lernen am kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit
Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe
Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zu¬
gesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen,
dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes
Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung
und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise
schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um
nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen,
nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend wel¬
chem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen
sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzu¬
dringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deut¬
schen und der griechischen Cultur herzustellen? So dass
vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in
den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie,

schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich
darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens,
vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer
romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er
nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem
überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine
auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann
brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt,
wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr
sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten
zu können, wohin sie will?

20.

Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen
Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen
Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu
lernen am kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit
Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe
Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zu¬
gesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen,
dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes
Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung
und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise
schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um
nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen,
nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend wel¬
chem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen
sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzu¬
dringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deut¬
schen und der griechischen Cultur herzustellen? So dass
vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in
den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0127" n="114"/>
schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich<lb/>
darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens,<lb/>
vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer<lb/>
romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er<lb/>
nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem<lb/>
überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine<lb/>
auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann<lb/>
brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt,<lb/>
wo wir <hi rendition="#i">die Wiedergeburt der Tragödie</hi> erleben und in Gefahr<lb/>
sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten<lb/>
zu können, wohin sie will?</p><lb/>
      </div>
      <div n="1">
        <head>20.<lb/></head>
        <p>Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen<lb/>
Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen<lb/>
Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu<lb/>
lernen am kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit<lb/>
Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe<lb/>
Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zu¬<lb/>
gesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen,<lb/>
dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes<lb/>
Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung<lb/>
und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise<lb/>
schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um<lb/>
nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen,<lb/>
nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend wel¬<lb/>
chem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen<lb/>
sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzu¬<lb/>
dringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deut¬<lb/>
schen und der griechischen Cultur herzustellen? So dass<lb/>
vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in<lb/>
den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0127] schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will? 20. Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zu¬ gesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen, nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend wel¬ chem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzu¬ dringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deut¬ schen und der griechischen Cultur herzustellen? So dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/127
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/127>, abgerufen am 17.11.2024.