Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die 18. Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige 7*
durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die 18. Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige 7*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0112" n="99"/> durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die<lb/> Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener<lb/> anderen Form der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrini¬<lb/> schen, ist die Heiterkeit <hi rendition="#i">des theoretischen Menschen</hi>: sie zeigt<lb/> dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem<lb/> Geiste des Undionysischen ableitete — dass sie die dionysische<lb/> Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzu¬<lb/> lösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes<lb/> eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina<lb/> setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h.<lb/> die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwen¬<lb/> deten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der<lb/> Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft ge¬<lb/> leitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den<lb/> einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren<lb/> Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben<lb/> sagt: »Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden«.</p><lb/> </div> <div n="1"> <head>18.<lb/></head> <p>Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige<lb/> Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion<lb/> seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben<lb/> zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erken¬<lb/> nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des<lb/> Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen<lb/> Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst,<lb/> jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem<lb/> Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar<lb/> weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren<lb/> Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu<lb/> schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die<lb/> <fw place="bottom" type="sig">7*<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [99/0112]
durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die
Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener
anderen Form der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrini¬
schen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt
dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem
Geiste des Undionysischen ableitete — dass sie die dionysische
Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzu¬
lösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes
eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina
setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h.
die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwen¬
deten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der
Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft ge¬
leitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den
einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren
Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben
sagt: »Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden«.
18.
Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige
Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion
seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben
zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erken¬
nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des
Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen
Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst,
jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem
Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar
weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren
Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu
schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die
7*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |