Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

den die verwegene Deduktion auch dann vorzeichnen müsste,
wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre. So wird man
uns auch nicht bestreiten, dass das scharf unterscheidende Merk-
mal moderner ästhetischer Gestaltung liegt in dem Durchgang
durch die bewussteste Kritik, und dem seit unsrer klassischen
Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis der ästhetischen
Schöpfung mit der strengsten Arbeit der Wissenschaft, mit
dem kühnsten Idealismus der Sittlichkeit, und mit dem Vor-
dringen der Philosophie zu einem einheitlichen, zentralen Ver-
ständnis des Bewusstseinsgrundes, in dem dies alles zu-
sammenhängt; welches aber genau die Kennzeichen der der
dritten Stufe eigenen Art und Richtung ästhetischer Bildung
dem Dargelegten zufolge ist. Darin liegt schliesslich der tiefste
Grund des Zusammenhangs des Aesthetischen mit dem Sitt-
lichen, mithin des Beitrags, den die ästhetische Bildung zur
Bildung des Willens liefern kann und soll.

§ 33.
Religion und Humanität.

Ueber den Quell der Religion im menschlichen Gemüt
und ihr Verhältnis zur Humanität d. i. zu Wissenschaft, Sitt-
lichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit
und inneren, organischen Einheit ist in einer früheren Schrift
eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier
und im letzten Kapitel zu sagenden darauf verweise, benutze
ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier
und da hervorgetretenen Missverständnissen oder Einwendungen
durch minder biegsame Fassungen zu begegnen.

Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über
eine eigene, von den drei vorgenannten etwa grundver-
schiedene Gestaltungsweise. Sondern, soweit sie eines
objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu
können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der
Ausdrucksmittel, die von jenen ihr zur Verfügung gestellt
werden. So giebt es einen eigenartigen religiösen Lehr-
begriff
in den Formen der Wissenschaft, eine religiöse "Dog-

den die verwegene Deduktion auch dann vorzeichnen müsste,
wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre. So wird man
uns auch nicht bestreiten, dass das scharf unterscheidende Merk-
mal moderner ästhetischer Gestaltung liegt in dem Durchgang
durch die bewussteste Kritik, und dem seit unsrer klassischen
Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis der ästhetischen
Schöpfung mit der strengsten Arbeit der Wissenschaft, mit
dem kühnsten Idealismus der Sittlichkeit, und mit dem Vor-
dringen der Philosophie zu einem einheitlichen, zentralen Ver-
ständnis des Bewusstseinsgrundes, in dem dies alles zu-
sammenhängt; welches aber genau die Kennzeichen der der
dritten Stufe eigenen Art und Richtung ästhetischer Bildung
dem Dargelegten zufolge ist. Darin liegt schliesslich der tiefste
Grund des Zusammenhangs des Aesthetischen mit dem Sitt-
lichen, mithin des Beitrags, den die ästhetische Bildung zur
Bildung des Willens liefern kann und soll.

§ 33.
Religion und Humanität.

Ueber den Quell der Religion im menschlichen Gemüt
und ihr Verhältnis zur Humanität d. i. zu Wissenschaft, Sitt-
lichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit
und inneren, organischen Einheit ist in einer früheren Schrift
eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier
und im letzten Kapitel zu sagenden darauf verweise, benutze
ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier
und da hervorgetretenen Missverständnissen oder Einwendungen
durch minder biegsame Fassungen zu begegnen.

Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über
eine eigene, von den drei vorgenannten etwa grundver-
schiedene Gestaltungsweise. Sondern, soweit sie eines
objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu
können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der
Ausdrucksmittel, die von jenen ihr zur Verfügung gestellt
werden. So giebt es einen eigenartigen religiösen Lehr-
begriff
in den Formen der Wissenschaft, eine religiöse „Dog-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0340" n="324"/>
den die verwegene Deduktion auch dann vorzeichnen müsste,<lb/>
wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre. So wird man<lb/>
uns auch nicht bestreiten, dass das scharf unterscheidende Merk-<lb/>
mal moderner ästhetischer Gestaltung liegt in dem Durchgang<lb/>
durch die bewussteste Kritik, und dem seit unsrer klassischen<lb/>
Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis der ästhetischen<lb/>
Schöpfung mit der strengsten Arbeit der Wissenschaft, mit<lb/>
dem kühnsten Idealismus der Sittlichkeit, und mit dem Vor-<lb/>
dringen der Philosophie zu einem einheitlichen, zentralen Ver-<lb/>
ständnis des <hi rendition="#g">Bewusstseinsgrundes</hi>, in dem dies alles zu-<lb/>
sammenhängt; welches aber genau die Kennzeichen der der<lb/>
dritten Stufe eigenen Art und Richtung ästhetischer Bildung<lb/>
dem Dargelegten zufolge ist. Darin liegt schliesslich der tiefste<lb/>
Grund des Zusammenhangs des Aesthetischen mit dem Sitt-<lb/>
lichen, mithin des Beitrags, den die ästhetische Bildung zur<lb/>
Bildung des Willens liefern kann und soll.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§ 33.<lb/><hi rendition="#b">Religion und Humanität.</hi></head><lb/>
          <p>Ueber den Quell der Religion im menschlichen Gemüt<lb/>
und ihr Verhältnis zur Humanität d. i. zu Wissenschaft, Sitt-<lb/>
lichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit<lb/>
und inneren, organischen Einheit ist in einer früheren Schrift<lb/>
eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier<lb/>
und im letzten Kapitel zu sagenden darauf verweise, benutze<lb/>
ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier<lb/>
und da hervorgetretenen Missverständnissen oder Einwendungen<lb/>
durch minder biegsame Fassungen zu begegnen.</p><lb/>
          <p>Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über<lb/>
eine eigene, von den drei vorgenannten etwa grundver-<lb/>
schiedene <hi rendition="#g">Gestaltungsweise</hi>. Sondern, soweit sie eines<lb/>
objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu<lb/>
können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der<lb/>
Ausdrucksmittel, die von jenen ihr zur Verfügung gestellt<lb/>
werden. So giebt es einen eigenartigen <hi rendition="#g">religiösen Lehr-<lb/>
begriff</hi> in den Formen der Wissenschaft, eine religiöse &#x201E;Dog-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0340] den die verwegene Deduktion auch dann vorzeichnen müsste, wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre. So wird man uns auch nicht bestreiten, dass das scharf unterscheidende Merk- mal moderner ästhetischer Gestaltung liegt in dem Durchgang durch die bewussteste Kritik, und dem seit unsrer klassischen Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis der ästhetischen Schöpfung mit der strengsten Arbeit der Wissenschaft, mit dem kühnsten Idealismus der Sittlichkeit, und mit dem Vor- dringen der Philosophie zu einem einheitlichen, zentralen Ver- ständnis des Bewusstseinsgrundes, in dem dies alles zu- sammenhängt; welches aber genau die Kennzeichen der der dritten Stufe eigenen Art und Richtung ästhetischer Bildung dem Dargelegten zufolge ist. Darin liegt schliesslich der tiefste Grund des Zusammenhangs des Aesthetischen mit dem Sitt- lichen, mithin des Beitrags, den die ästhetische Bildung zur Bildung des Willens liefern kann und soll. § 33. Religion und Humanität. Ueber den Quell der Religion im menschlichen Gemüt und ihr Verhältnis zur Humanität d. i. zu Wissenschaft, Sitt- lichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit und inneren, organischen Einheit ist in einer früheren Schrift eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier und im letzten Kapitel zu sagenden darauf verweise, benutze ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier und da hervorgetretenen Missverständnissen oder Einwendungen durch minder biegsame Fassungen zu begegnen. Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über eine eigene, von den drei vorgenannten etwa grundver- schiedene Gestaltungsweise. Sondern, soweit sie eines objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der Ausdrucksmittel, die von jenen ihr zur Verfügung gestellt werden. So giebt es einen eigenartigen religiösen Lehr- begriff in den Formen der Wissenschaft, eine religiöse „Dog-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/340
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/340>, abgerufen am 03.12.2024.