§ 30. Fortsetzung. Zweite Stufe. "Erziehender Unterricht", insbesondere Geschichte als "Gesinnungsunterricht".
Das unterscheidende Merkmal der zweiten Erziehungsstufe in Hinsicht der Intellektbildung sehen wir in der bewussten Erarbeitung der Begriffe, dem planmässigen Ausgehen auf Einheit und Gliederung zunächst einzelner, bestimmt abge- grenzter Wissensgebiete, die dann von selbst auch unter sich Einheit suchen werden. Daraus folgt eine gewisse und zwar fortschreitende Scheidung von Theorie und Ausübung, die auf der ersten Stufe noch in möglichst enger Verbindung zu halten waren. Eine starke und selbständige Entwicklung des theo- retischen Vermögens muss aber auch zur Willensbildung Wesent- liches beitragen, denn das Formale des Intellekts, in dem seine tiefste Verbindung mit dem Willen liegt, kommt eben darin erst zu seiner ganzen Wirkung.
Hierauf gründen wir die Behauptung, dass in Hinsicht der sittlichen Wirkung gerade den Unterrichtsfächern eine besondere Wichtigkeit zukommt, die den Charakter des In- tellektuellen am reinsten darstellen. Diese sind aber Mathe- matik und mathematische Naturwissenschaft. Haben diese dem Stoff nach zum Willen auch keine direkte Beziehung, so dienen sie eben durch die Energie, mit der sie die Form an die Spitze stellen und alles Materiale, mit dem sie zu thun haben, möglichst rein in Form aufzulösen streben, desto mehr der Disziplin des Geistes auch in der praktischen Bedeutung der Willensherrschaft in der Erkenntnis. Sie erziehen zum Gewissen der Wahrheit. Uebrigens bleibt auch das Stoffliche der Naturwissenschaft (in der Mathematik ist eigent- lich nichts Stoff, sondern die Form alles) nicht gleichgültig für den Aufbau der Willenswelt. Denn alles Natürliche ist zu- gleich Materie für den Willen, während zugleich die Natur- einheit, als eine Idee der Vernunft, die Voraussetzung ist für die reine Ausarbeitung der Idee einer Einheit der Zwecke. Eben deswegen darf man es nicht scheuen, sie, als Idee, auch
§ 30. Fortsetzung. Zweite Stufe. „Erziehender Unterricht“, insbesondere Geschichte als „Gesinnungsunterricht“.
Das unterscheidende Merkmal der zweiten Erziehungsstufe in Hinsicht der Intellektbildung sehen wir in der bewussten Erarbeitung der Begriffe, dem planmässigen Ausgehen auf Einheit und Gliederung zunächst einzelner, bestimmt abge- grenzter Wissensgebiete, die dann von selbst auch unter sich Einheit suchen werden. Daraus folgt eine gewisse und zwar fortschreitende Scheidung von Theorie und Ausübung, die auf der ersten Stufe noch in möglichst enger Verbindung zu halten waren. Eine starke und selbständige Entwicklung des theo- retischen Vermögens muss aber auch zur Willensbildung Wesent- liches beitragen, denn das Formale des Intellekts, in dem seine tiefste Verbindung mit dem Willen liegt, kommt eben darin erst zu seiner ganzen Wirkung.
Hierauf gründen wir die Behauptung, dass in Hinsicht der sittlichen Wirkung gerade den Unterrichtsfächern eine besondere Wichtigkeit zukommt, die den Charakter des In- tellektuellen am reinsten darstellen. Diese sind aber Mathe- matik und mathematische Naturwissenschaft. Haben diese dem Stoff nach zum Willen auch keine direkte Beziehung, so dienen sie eben durch die Energie, mit der sie die Form an die Spitze stellen und alles Materiale, mit dem sie zu thun haben, möglichst rein in Form aufzulösen streben, desto mehr der Disziplin des Geistes auch in der praktischen Bedeutung der Willensherrschaft in der Erkenntnis. Sie erziehen zum Gewissen der Wahrheit. Uebrigens bleibt auch das Stoffliche der Naturwissenschaft (in der Mathematik ist eigent- lich nichts Stoff, sondern die Form alles) nicht gleichgültig für den Aufbau der Willenswelt. Denn alles Natürliche ist zu- gleich Materie für den Willen, während zugleich die Natur- einheit, als eine Idee der Vernunft, die Voraussetzung ist für die reine Ausarbeitung der Idee einer Einheit der Zwecke. Eben deswegen darf man es nicht scheuen, sie, als Idee, auch
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§ 30.
Fortsetzung. Zweite Stufe. „Erziehender Unterricht“,
insbesondere Geschichte als „Gesinnungsunterricht“.
Das unterscheidende Merkmal der zweiten Erziehungsstufe
in Hinsicht der Intellektbildung sehen wir in der bewussten
Erarbeitung der Begriffe, dem planmässigen Ausgehen auf
Einheit und Gliederung zunächst einzelner, bestimmt abge-
grenzter Wissensgebiete, die dann von selbst auch unter sich
Einheit suchen werden. Daraus folgt eine gewisse und zwar
fortschreitende Scheidung von Theorie und Ausübung, die auf
der ersten Stufe noch in möglichst enger Verbindung zu halten
waren. Eine starke und selbständige Entwicklung des theo-
retischen Vermögens muss aber auch zur Willensbildung Wesent-
liches beitragen, denn das Formale des Intellekts, in dem seine
tiefste Verbindung mit dem Willen liegt, kommt eben darin
erst zu seiner ganzen Wirkung.
Hierauf gründen wir die Behauptung, dass in Hinsicht
der sittlichen Wirkung gerade den Unterrichtsfächern eine
besondere Wichtigkeit zukommt, die den Charakter des In-
tellektuellen am reinsten darstellen. Diese sind aber Mathe-
matik und mathematische Naturwissenschaft. Haben
diese dem Stoff nach zum Willen auch keine direkte Beziehung,
so dienen sie eben durch die Energie, mit der sie die Form
an die Spitze stellen und alles Materiale, mit dem sie zu thun
haben, möglichst rein in Form aufzulösen streben, desto mehr
der Disziplin des Geistes auch in der praktischen Bedeutung
der Willensherrschaft in der Erkenntnis. Sie erziehen
zum Gewissen der Wahrheit. Uebrigens bleibt auch das
Stoffliche der Naturwissenschaft (in der Mathematik ist eigent-
lich nichts Stoff, sondern die Form alles) nicht gleichgültig für
den Aufbau der Willenswelt. Denn alles Natürliche ist zu-
gleich Materie für den Willen, während zugleich die Natur-
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Eben deswegen darf man es nicht scheuen, sie, als Idee, auch
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/298>, abgerufen am 21.11.2024.
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