Vielmehr mitten aus diesem "weltlichen" Leben, aus Wirt- schaft und Staat, kurz aus dem befreiten Menschheits- gefühl soll, unter dem wachsenden Einfluss menschlicher Wissen- schaft und menschlicher Arbeit, das vertiefte Bewusstsein und die energische Bethätigung der Gemeinschaft erstehen; soll ein Gemeinleben sich gestalten, das in wirtschaftlich-rechtlicher Gemeinsamkeit nicht aufgeht, sondern auf ihrer Grundlage das ganze geistige Dasein des Menschen umspannt. Aber vielleicht wird eben damit das Leben der Gemeinschaft von selbst einen religiösen oder dem religiösen nächstverwandten Zug annehmen. Es braucht der Glut und Tiefe des Gefühls, nämlich des Menschheitsgefühls, des Unendlichkeitsgefühls, keines- wegs zu entbehren; es mag darin selbst einen neuen Mittel- punkt finden, in dem es geborgen ruht -- sofern dem Menschen ein Ruhen gestattet ist. Denn der Mensch lebt nicht von der Vernunft allein; das unmittelbarere Leben des Gefühls fordert auch sein Recht und wird es sich immer zu schaffen wissen. Nur muss der Vernunft die Leitung und gleichsam die oberste gesetzgebende Gewalt im Menschenleben unbedingt verbleiben. Dafür wäre aber unter den gedachten Voraussetzungen die Gewähr gegeben.
Es ist keine Botschaft vom Himmel, die wir zu verkünden kommen; weder die alte noch etwa eine neue. Sondern es ist, was aus der Entwicklung der Menschheit hier auf Erden als Idee längst geboren, was von vielen der besten unsres Ge- schlechts als Ziel bereits genannt und herbeigesehnt worden ist. Und so bedarf es auch keiner Wunder und Zeichen aus einer andern Welt, um das Ziel in dieser Welt verwirklicht darzustellen. Sondern es bedarf nur des einzigen mutigen Entschlusses der Menschheit, rein ihrer Menschenvernunft zu folgen: Sapere aude!
§ 23. Form der willenbildenden Thätigkeit. Uebung und Lehre.
Wir haben die Organisationsformen dargelegt, in welche alle Arbeit an der Erziehung des Willens sich einfügen muss. Es bleibt übrig, das Besondere der Erziehungs-
Vielmehr mitten aus diesem „weltlichen“ Leben, aus Wirt- schaft und Staat, kurz aus dem befreiten Menschheits- gefühl soll, unter dem wachsenden Einfluss menschlicher Wissen- schaft und menschlicher Arbeit, das vertiefte Bewusstsein und die energische Bethätigung der Gemeinschaft erstehen; soll ein Gemeinleben sich gestalten, das in wirtschaftlich-rechtlicher Gemeinsamkeit nicht aufgeht, sondern auf ihrer Grundlage das ganze geistige Dasein des Menschen umspannt. Aber vielleicht wird eben damit das Leben der Gemeinschaft von selbst einen religiösen oder dem religiösen nächstverwandten Zug annehmen. Es braucht der Glut und Tiefe des Gefühls, nämlich des Menschheitsgefühls, des Unendlichkeitsgefühls, keines- wegs zu entbehren; es mag darin selbst einen neuen Mittel- punkt finden, in dem es geborgen ruht — sofern dem Menschen ein Ruhen gestattet ist. Denn der Mensch lebt nicht von der Vernunft allein; das unmittelbarere Leben des Gefühls fordert auch sein Recht und wird es sich immer zu schaffen wissen. Nur muss der Vernunft die Leitung und gleichsam die oberste gesetzgebende Gewalt im Menschenleben unbedingt verbleiben. Dafür wäre aber unter den gedachten Voraussetzungen die Gewähr gegeben.
Es ist keine Botschaft vom Himmel, die wir zu verkünden kommen; weder die alte noch etwa eine neue. Sondern es ist, was aus der Entwicklung der Menschheit hier auf Erden als Idee längst geboren, was von vielen der besten unsres Ge- schlechts als Ziel bereits genannt und herbeigesehnt worden ist. Und so bedarf es auch keiner Wunder und Zeichen aus einer andern Welt, um das Ziel in dieser Welt verwirklicht darzustellen. Sondern es bedarf nur des einzigen mutigen Entschlusses der Menschheit, rein ihrer Menschenvernunft zu folgen: Sapere aude!
§ 23. Form der willenbildenden Thätigkeit. Uebung und Lehre.
Wir haben die Organisationsformen dargelegt, in welche alle Arbeit an der Erziehung des Willens sich einfügen muss. Es bleibt übrig, das Besondere der Erziehungs-
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Vielmehr mitten aus diesem „weltlichen“ Leben, aus Wirt-
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die energische Bethätigung der Gemeinschaft erstehen; soll ein
Gemeinleben sich gestalten, das in wirtschaftlich-rechtlicher
Gemeinsamkeit nicht aufgeht, sondern auf ihrer Grundlage das
ganze geistige Dasein des Menschen umspannt. Aber vielleicht
wird eben damit das Leben der Gemeinschaft von selbst einen
religiösen oder dem religiösen nächstverwandten Zug annehmen.
Es braucht der Glut und Tiefe des Gefühls, nämlich des
Menschheitsgefühls, des Unendlichkeitsgefühls, keines-
wegs zu entbehren; es mag darin selbst einen neuen Mittel-
punkt finden, in dem es geborgen ruht — sofern dem Menschen
ein Ruhen gestattet ist. Denn der Mensch lebt nicht von
der Vernunft allein; das unmittelbarere Leben des Gefühls fordert
auch sein Recht und wird es sich immer zu schaffen wissen.
Nur muss der Vernunft die Leitung und gleichsam die oberste
gesetzgebende Gewalt im Menschenleben unbedingt verbleiben.
Dafür wäre aber unter den gedachten Voraussetzungen die
Gewähr gegeben.
Es ist keine Botschaft vom Himmel, die wir zu verkünden
kommen; weder die alte noch etwa eine neue. Sondern es ist,
was aus der Entwicklung der Menschheit hier auf Erden als
Idee längst geboren, was von vielen der besten unsres Ge-
schlechts als Ziel bereits genannt und herbeigesehnt worden
ist. Und so bedarf es auch keiner Wunder und Zeichen aus
einer andern Welt, um das Ziel in dieser Welt verwirklicht
darzustellen. Sondern es bedarf nur des einzigen mutigen
Entschlusses der Menschheit, rein ihrer Menschenvernunft zu
folgen: Sapere aude!
§ 23.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/240>, abgerufen am 22.12.2024.
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