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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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Commerz-Minister eines Landes auf das Ausland
und auf das Inland zugleich sehen muß, eben
so der Krieges-Minister auf beide, eben so jeder
Beamte, jeder Bürger, ohne Unterlaß auf
beide.

Die Delphische Ueberschrift: Kenne dich
selbst
! ist die erste Regel, so gut für den Staat,
wie für den einzelnen Menschen. Wie will aber
der Staat sich kennen lernen? Reicht es hin,
daß er seine Ressourcen, Produkte, Land, Leute,
Summen und Umlauf des Geldes, Gesetze und
wohlthätigen Anstalten kennt? Damit begreift er
sich noch eben so wenig, wie ein Mensch, der, in
sein Wohnzimmer verschlossen, sich selbst beob-
achtete, seinen Puls befühlte, und seine Nah-
rung abwöge. Dies führt Staaten und Men-
schen zur Hypochondrie: diese zur Menschenscheu;
jene zu Neutralitäts-Systemen oder zur Staaten-
scheu, aber nicht zur Selbstkenntniß. Im be-
ständigen regen und beweglichen Umgange mit
Seinesgleichen lernt der Mensch besonders sich
selbst kennen: eben so der Staat seine Eigenheit,
sein Gewicht, seine Physiognomie, seine Kraft
und seine Liebenswürdigkeit nur im beständigen,
streitenden und friedlichen Umgange mit andern
Staaten.

Der Staatsgelehrte kann demnach den

Commerz-Miniſter eines Landes auf das Ausland
und auf das Inland zugleich ſehen muß, eben
ſo der Krieges-Miniſter auf beide, eben ſo jeder
Beamte, jeder Buͤrger, ohne Unterlaß auf
beide.

Die Delphiſche Ueberſchrift: Kenne dich
ſelbſt
! iſt die erſte Regel, ſo gut fuͤr den Staat,
wie fuͤr den einzelnen Menſchen. Wie will aber
der Staat ſich kennen lernen? Reicht es hin,
daß er ſeine Reſſourcen, Produkte, Land, Leute,
Summen und Umlauf des Geldes, Geſetze und
wohlthaͤtigen Anſtalten kennt? Damit begreift er
ſich noch eben ſo wenig, wie ein Menſch, der, in
ſein Wohnzimmer verſchloſſen, ſich ſelbſt beob-
achtete, ſeinen Puls befuͤhlte, und ſeine Nah-
rung abwoͤge. Dies fuͤhrt Staaten und Men-
ſchen zur Hypochondrie: dieſe zur Menſchenſcheu;
jene zu Neutralitaͤts-Syſtemen oder zur Staaten-
ſcheu, aber nicht zur Selbſtkenntniß. Im be-
ſtaͤndigen regen und beweglichen Umgange mit
Seinesgleichen lernt der Menſch beſonders ſich
ſelbſt kennen: eben ſo der Staat ſeine Eigenheit,
ſein Gewicht, ſeine Phyſiognomie, ſeine Kraft
und ſeine Liebenswuͤrdigkeit nur im beſtaͤndigen,
ſtreitenden und friedlichen Umgange mit andern
Staaten.

Der Staatsgelehrte kann demnach den

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[14/0048] Commerz-Miniſter eines Landes auf das Ausland und auf das Inland zugleich ſehen muß, eben ſo der Krieges-Miniſter auf beide, eben ſo jeder Beamte, jeder Buͤrger, ohne Unterlaß auf beide. Die Delphiſche Ueberſchrift: Kenne dich ſelbſt! iſt die erſte Regel, ſo gut fuͤr den Staat, wie fuͤr den einzelnen Menſchen. Wie will aber der Staat ſich kennen lernen? Reicht es hin, daß er ſeine Reſſourcen, Produkte, Land, Leute, Summen und Umlauf des Geldes, Geſetze und wohlthaͤtigen Anſtalten kennt? Damit begreift er ſich noch eben ſo wenig, wie ein Menſch, der, in ſein Wohnzimmer verſchloſſen, ſich ſelbſt beob- achtete, ſeinen Puls befuͤhlte, und ſeine Nah- rung abwoͤge. Dies fuͤhrt Staaten und Men- ſchen zur Hypochondrie: dieſe zur Menſchenſcheu; jene zu Neutralitaͤts-Syſtemen oder zur Staaten- ſcheu, aber nicht zur Selbſtkenntniß. Im be- ſtaͤndigen regen und beweglichen Umgange mit Seinesgleichen lernt der Menſch beſonders ſich ſelbſt kennen: eben ſo der Staat ſeine Eigenheit, ſein Gewicht, ſeine Phyſiognomie, ſeine Kraft und ſeine Liebenswuͤrdigkeit nur im beſtaͤndigen, ſtreitenden und friedlichen Umgange mit andern Staaten. Der Staatsgelehrte kann demnach den

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/48>, abgerufen am 26.04.2024.