1325. Die Hauptform der alten Kunst ist der mensch- liche Körper. Der Menschenkörper erschien den alten Griechen als das nothwendige Correlat des Geistes, als 2der natürliche und einzige Ausdruck dafür. Wenn ur- sprünglich die Auffassung der Naturereignisse und Localitä- ten, der menschlichen Zustände und Eigenschaften als gött- licher Personen zur Religion gehörte, und aus dem tief- sten Grunde der religiösen Vorstellungen des Alterthums hervorging: so war später, als diese religiöse Vorstel- lungsweise schon lange verschwunden war, die Darstel- lung aller dieser Gegenstände in menschlichen Gestalten rei- nes Kunstbedürfniß geworden; und auch unabhängig von Cultus und Glauben erschuf die Kunst für sich, ihren in- nern Gesetzen folgend, eine unübersehbare Zahl von Ge- 3stalten dieser Art. Bis in die späteste Zeit, selbst bis in die, wo eine fremdartige Religion der frühern Welt- anschauung völlig ein Ende gemacht hatte, blieb es Grund- satz und Charakter der Griechischen Kunst, den Ort einer Handlung, die innern Antriebe, die befördernden und hemmenden Verhältnisse, persönlich in menschlicher Ge- stalt hinzustellen, und dagegen die äußre Naturerscheinung möglichst zusammengezogen, fast nur als Attribut dieser Gestalten zu behandeln.
Zweiter Theil. Von den Formen der alten Kunſt.
I.Vom menſchlichen Koͤrper.
A. Allgemeine Grundſaͤtze.
1325. Die Hauptform der alten Kunſt iſt der menſch- liche Koͤrper. Der Menſchenkoͤrper erſchien den alten Griechen als das nothwendige Correlat des Geiſtes, als 2der natuͤrliche und einzige Ausdruck dafuͤr. Wenn ur- ſpruͤnglich die Auffaſſung der Naturereigniſſe und Localitaͤ- ten, der menſchlichen Zuſtaͤnde und Eigenſchaften als goͤtt- licher Perſonen zur Religion gehoͤrte, und aus dem tief- ſten Grunde der religioͤſen Vorſtellungen des Alterthums hervorging: ſo war ſpaͤter, als dieſe religioͤſe Vorſtel- lungsweiſe ſchon lange verſchwunden war, die Darſtel- lung aller dieſer Gegenſtaͤnde in menſchlichen Geſtalten rei- nes Kunſtbeduͤrfniß geworden; und auch unabhaͤngig von Cultus und Glauben erſchuf die Kunſt fuͤr ſich, ihren in- nern Geſetzen folgend, eine unuͤberſehbare Zahl von Ge- 3ſtalten dieſer Art. Bis in die ſpaͤteſte Zeit, ſelbſt bis in die, wo eine fremdartige Religion der fruͤhern Welt- anſchauung voͤllig ein Ende gemacht hatte, blieb es Grund- ſatz und Charakter der Griechiſchen Kunſt, den Ort einer Handlung, die innern Antriebe, die befoͤrdernden und hemmenden Verhaͤltniſſe, perſoͤnlich in menſchlicher Ge- ſtalt hinzuſtellen, und dagegen die aͤußre Naturerſcheinung moͤglichſt zuſammengezogen, faſt nur als Attribut dieſer Geſtalten zu behandeln.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0422"n="400"/><divn="4"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Zweiter Theil</hi>.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/> Von den Formen der alten Kunſt.</hi></head><lb/><divn="5"><head><hirendition="#aq">I.</hi><hirendition="#g">Vom menſchlichen Koͤrper</hi>.</head><lb/><divn="6"><head><hirendition="#aq">A.</hi> Allgemeine Grundſaͤtze.</head><lb/><p><noteplace="left">1</note>325. Die Hauptform der alten Kunſt iſt der menſch-<lb/>
liche Koͤrper. Der Menſchenkoͤrper erſchien den alten<lb/>
Griechen als das nothwendige Correlat des Geiſtes, als<lb/><noteplace="left">2</note>der natuͤrliche und einzige Ausdruck dafuͤr. Wenn ur-<lb/>ſpruͤnglich die Auffaſſung der Naturereigniſſe und Localitaͤ-<lb/>
ten, der menſchlichen Zuſtaͤnde und Eigenſchaften als goͤtt-<lb/>
licher Perſonen zur Religion gehoͤrte, und aus dem tief-<lb/>ſten Grunde der religioͤſen Vorſtellungen des Alterthums<lb/>
hervorging: ſo war ſpaͤter, als dieſe religioͤſe Vorſtel-<lb/>
lungsweiſe ſchon lange verſchwunden war, die Darſtel-<lb/>
lung aller dieſer Gegenſtaͤnde in menſchlichen Geſtalten rei-<lb/>
nes Kunſtbeduͤrfniß geworden; und auch unabhaͤngig von<lb/>
Cultus und Glauben erſchuf die Kunſt fuͤr ſich, ihren in-<lb/>
nern Geſetzen folgend, eine unuͤberſehbare Zahl von Ge-<lb/><noteplace="left">3</note>ſtalten dieſer Art. Bis in die ſpaͤteſte Zeit, ſelbſt bis<lb/>
in die, wo eine fremdartige Religion der fruͤhern Welt-<lb/>
anſchauung voͤllig ein Ende gemacht hatte, blieb es Grund-<lb/>ſatz und Charakter der Griechiſchen Kunſt, den Ort einer<lb/>
Handlung, die innern Antriebe, die befoͤrdernden und<lb/>
hemmenden Verhaͤltniſſe, perſoͤnlich in menſchlicher Ge-<lb/>ſtalt hinzuſtellen, und dagegen die aͤußre Naturerſcheinung<lb/>
moͤglichſt zuſammengezogen, faſt nur als Attribut dieſer<lb/>
Geſtalten zu behandeln.</p><lb/></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[400/0422]
Zweiter Theil.
Von den Formen der alten Kunſt.
I. Vom menſchlichen Koͤrper.
A. Allgemeine Grundſaͤtze.
325. Die Hauptform der alten Kunſt iſt der menſch-
liche Koͤrper. Der Menſchenkoͤrper erſchien den alten
Griechen als das nothwendige Correlat des Geiſtes, als
der natuͤrliche und einzige Ausdruck dafuͤr. Wenn ur-
ſpruͤnglich die Auffaſſung der Naturereigniſſe und Localitaͤ-
ten, der menſchlichen Zuſtaͤnde und Eigenſchaften als goͤtt-
licher Perſonen zur Religion gehoͤrte, und aus dem tief-
ſten Grunde der religioͤſen Vorſtellungen des Alterthums
hervorging: ſo war ſpaͤter, als dieſe religioͤſe Vorſtel-
lungsweiſe ſchon lange verſchwunden war, die Darſtel-
lung aller dieſer Gegenſtaͤnde in menſchlichen Geſtalten rei-
nes Kunſtbeduͤrfniß geworden; und auch unabhaͤngig von
Cultus und Glauben erſchuf die Kunſt fuͤr ſich, ihren in-
nern Geſetzen folgend, eine unuͤberſehbare Zahl von Ge-
ſtalten dieſer Art. Bis in die ſpaͤteſte Zeit, ſelbſt bis
in die, wo eine fremdartige Religion der fruͤhern Welt-
anſchauung voͤllig ein Ende gemacht hatte, blieb es Grund-
ſatz und Charakter der Griechiſchen Kunſt, den Ort einer
Handlung, die innern Antriebe, die befoͤrdernden und
hemmenden Verhaͤltniſſe, perſoͤnlich in menſchlicher Ge-
ſtalt hinzuſtellen, und dagegen die aͤußre Naturerſcheinung
moͤglichſt zuſammengezogen, faſt nur als Attribut dieſer
Geſtalten zu behandeln.
1
2
3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/422>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.