Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

die Wahl Eines richtete sich das Augenmerk des gan-
zen Staates. Angesehene Männer also, dem Greisen-
alter nahe, wahrscheinlich immer aus der Oba, deren
Stelle erledigt war 1, boten sich dann nach eigenem
Willen 2 dem Gericht der allgemeinen Stimme dar.
Das hohe Alter gewährte den Wählern den Vortheil,
ein langes öffentliches Leben prüfend überschauen zu
können, dem Staate den der höchsten Einsicht und Er-
fahrung der Gewählten; Altersschwäche aber, welche
Aristoteles bei ihnen fürchtet, durfte ein Zeitalter und
ein Staat nicht besorgen, dessen Menschengeschlecht sich
der höchsten körperlichen Gesundheit erfreute. Daß sie
durch Wahl, doch aber vom ganzen Volke 3, bestimmt
wurden, forderte der aristokratische Zweck des Amtes;
daß sie selbst zustimmen mußten, der zu diesem Amt be-
sonders erforderliche gute Wille eines Jeden.

2.

Wenn sie nun diese Wahlprüfung bestanden
hatten, so waren sie aller ferneren für immer erledigt,
und auf ihr eigenes Bewußtsein angewiesen 4. Sie
hatten keine Rechenschaft abzulegen, weil ja die Aus-
sicht des Lebensendes ihnen mehr ruhige Mäßigung 5 ge-
ben mußte, als der Gedanke an die Niederlegung des
Amtes und das Urtheil der Menge: der doch sonst die
höchste Rechenschaft anvertraut war. Es baute aber
einmal der Geist dieser aristokratischen Einrichtung auf
die ethische Würde der Geronten, und wollte ihnen zu
dieser auch vollkommene Furchtlosigkeit verleihen. Das
aber schien spätern Politikern noch gefährlicher, daß
Sparta's Geronten nach eigenem Dafürhalten, und
nicht nach geschriebenen Gesetzen, ihr Amt verwalteten,
aber nur deswegen, weil sie die Macht des Herkom-

1 S. oben S. 79.
2 Arist. 2, 6, 18.
3 4, 5, 11.
4 Vgl. zum Folgenden Aristot.-Pol. 2, 6, 17. 2, 7, 6. Plut. Lyk. a.
O.
5 ten kata geras sophrona dunamin nennt sie Plato
Gesetze 3, 692 a.

die Wahl Eines richtete ſich das Augenmerk des gan-
zen Staates. Angeſehene Maͤnner alſo, dem Greiſen-
alter nahe, wahrſcheinlich immer aus der Oba, deren
Stelle erledigt war 1, boten ſich dann nach eigenem
Willen 2 dem Gericht der allgemeinen Stimme dar.
Das hohe Alter gewaͤhrte den Waͤhlern den Vortheil,
ein langes oͤffentliches Leben pruͤfend uͤberſchauen zu
koͤnnen, dem Staate den der hoͤchſten Einſicht und Er-
fahrung der Gewaͤhlten; Altersſchwaͤche aber, welche
Ariſtoteles bei ihnen fuͤrchtet, durfte ein Zeitalter und
ein Staat nicht beſorgen, deſſen Menſchengeſchlecht ſich
der hoͤchſten koͤrperlichen Geſundheit erfreute. Daß ſie
durch Wahl, doch aber vom ganzen Volke 3, beſtimmt
wurden, forderte der ariſtokratiſche Zweck des Amtes;
daß ſie ſelbſt zuſtimmen mußten, der zu dieſem Amt be-
ſonders erforderliche gute Wille eines Jeden.

2.

Wenn ſie nun dieſe Wahlpruͤfung beſtanden
hatten, ſo waren ſie aller ferneren fuͤr immer erledigt,
und auf ihr eigenes Bewußtſein angewieſen 4. Sie
hatten keine Rechenſchaft abzulegen, weil ja die Aus-
ſicht des Lebensendes ihnen mehr ruhige Maͤßigung 5 ge-
ben mußte, als der Gedanke an die Niederlegung des
Amtes und das Urtheil der Menge: der doch ſonſt die
hoͤchſte Rechenſchaft anvertraut war. Es baute aber
einmal der Geiſt dieſer ariſtokratiſchen Einrichtung auf
die ethiſche Wuͤrde der Geronten, und wollte ihnen zu
dieſer auch vollkommene Furchtloſigkeit verleihen. Das
aber ſchien ſpaͤtern Politikern noch gefaͤhrlicher, daß
Sparta’s Geronten nach eigenem Dafuͤrhalten, und
nicht nach geſchriebenen Geſetzen, ihr Amt verwalteten,
aber nur deswegen, weil ſie die Macht des Herkom-

1 S. oben S. 79.
2 Ariſt. 2, 6, 18.
3 4, 5, 11.
4 Vgl. zum Folgenden Ariſtot.-Pol. 2, 6, 17. 2, 7, 6. Plut. Lyk. a.
O.
5 τὴν κατἀ γῆϱας σώφϱονα δύναμιν nennt ſie Plato
Geſetze 3, 692 a.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0099" n="93"/>
die Wahl <hi rendition="#g">Eines</hi> richtete &#x017F;ich das Augenmerk des gan-<lb/>
zen Staates. Ange&#x017F;ehene Ma&#x0364;nner al&#x017F;o, dem Grei&#x017F;en-<lb/>
alter nahe, wahr&#x017F;cheinlich immer aus der Oba, deren<lb/>
Stelle erledigt war <note place="foot" n="1">S. oben S. 79.</note>, boten &#x017F;ich dann nach eigenem<lb/>
Willen <note place="foot" n="2">Ari&#x017F;t. 2, 6, 18.</note> dem Gericht der allgemeinen Stimme dar.<lb/>
Das hohe Alter gewa&#x0364;hrte den Wa&#x0364;hlern den Vortheil,<lb/>
ein langes o&#x0364;ffentliches Leben pru&#x0364;fend u&#x0364;ber&#x017F;chauen zu<lb/>
ko&#x0364;nnen, dem Staate den der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Ein&#x017F;icht und Er-<lb/>
fahrung der Gewa&#x0364;hlten; Alters&#x017F;chwa&#x0364;che aber, welche<lb/>
Ari&#x017F;toteles bei ihnen fu&#x0364;rchtet, durfte ein Zeitalter und<lb/>
ein Staat nicht be&#x017F;orgen, de&#x017F;&#x017F;en Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht &#x017F;ich<lb/>
der ho&#x0364;ch&#x017F;ten ko&#x0364;rperlichen Ge&#x017F;undheit erfreute. Daß &#x017F;ie<lb/>
durch Wahl, doch aber vom ganzen Volke <note place="foot" n="3">4, 5, 11.</note>, be&#x017F;timmt<lb/>
wurden, forderte der ari&#x017F;tokrati&#x017F;che Zweck des Amtes;<lb/>
daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t zu&#x017F;timmen mußten, der zu die&#x017F;em Amt be-<lb/>
&#x017F;onders erforderliche gute Wille eines Jeden.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>2.</head><lb/>
            <p>Wenn &#x017F;ie nun die&#x017F;e Wahlpru&#x0364;fung be&#x017F;tanden<lb/>
hatten, &#x017F;o waren &#x017F;ie aller ferneren fu&#x0364;r immer erledigt,<lb/>
und auf ihr eigenes Bewußt&#x017F;ein angewie&#x017F;en <note place="foot" n="4">Vgl. zum Folgenden Ari&#x017F;tot.-Pol. 2, 6, 17. 2, 7, 6. Plut. Lyk. a.<lb/>
O.</note>. Sie<lb/>
hatten keine Rechen&#x017F;chaft abzulegen, weil ja die Aus-<lb/>
&#x017F;icht des Lebensendes ihnen mehr ruhige Ma&#x0364;ßigung <note place="foot" n="5">&#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x1F00; &#x03B3;&#x1FC6;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C2; &#x03C3;&#x03CE;&#x03C6;&#x03F1;&#x03BF;&#x03BD;&#x03B1; &#x03B4;&#x03CD;&#x03BD;&#x03B1;&#x03BC;&#x03B9;&#x03BD; nennt &#x017F;ie Plato<lb/>
Ge&#x017F;etze 3, 692 <hi rendition="#aq">a</hi>.</note> ge-<lb/>
ben mußte, als der Gedanke an die Niederlegung des<lb/>
Amtes und das Urtheil der Menge: der doch &#x017F;on&#x017F;t die<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;te Rechen&#x017F;chaft anvertraut war. Es baute aber<lb/>
einmal der Gei&#x017F;t die&#x017F;er ari&#x017F;tokrati&#x017F;chen Einrichtung auf<lb/>
die ethi&#x017F;che Wu&#x0364;rde der Geronten, und wollte ihnen zu<lb/>
die&#x017F;er auch vollkommene Furchtlo&#x017F;igkeit verleihen. Das<lb/>
aber &#x017F;chien &#x017F;pa&#x0364;tern Politikern noch gefa&#x0364;hrlicher, daß<lb/>
Sparta&#x2019;s Geronten nach eigenem Dafu&#x0364;rhalten, und<lb/>
nicht nach ge&#x017F;chriebenen Ge&#x017F;etzen, ihr Amt verwalteten,<lb/>
aber nur deswegen, weil &#x017F;ie die Macht des Herkom-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0099] die Wahl Eines richtete ſich das Augenmerk des gan- zen Staates. Angeſehene Maͤnner alſo, dem Greiſen- alter nahe, wahrſcheinlich immer aus der Oba, deren Stelle erledigt war 1, boten ſich dann nach eigenem Willen 2 dem Gericht der allgemeinen Stimme dar. Das hohe Alter gewaͤhrte den Waͤhlern den Vortheil, ein langes oͤffentliches Leben pruͤfend uͤberſchauen zu koͤnnen, dem Staate den der hoͤchſten Einſicht und Er- fahrung der Gewaͤhlten; Altersſchwaͤche aber, welche Ariſtoteles bei ihnen fuͤrchtet, durfte ein Zeitalter und ein Staat nicht beſorgen, deſſen Menſchengeſchlecht ſich der hoͤchſten koͤrperlichen Geſundheit erfreute. Daß ſie durch Wahl, doch aber vom ganzen Volke 3, beſtimmt wurden, forderte der ariſtokratiſche Zweck des Amtes; daß ſie ſelbſt zuſtimmen mußten, der zu dieſem Amt be- ſonders erforderliche gute Wille eines Jeden. 2. Wenn ſie nun dieſe Wahlpruͤfung beſtanden hatten, ſo waren ſie aller ferneren fuͤr immer erledigt, und auf ihr eigenes Bewußtſein angewieſen 4. Sie hatten keine Rechenſchaft abzulegen, weil ja die Aus- ſicht des Lebensendes ihnen mehr ruhige Maͤßigung 5 ge- ben mußte, als der Gedanke an die Niederlegung des Amtes und das Urtheil der Menge: der doch ſonſt die hoͤchſte Rechenſchaft anvertraut war. Es baute aber einmal der Geiſt dieſer ariſtokratiſchen Einrichtung auf die ethiſche Wuͤrde der Geronten, und wollte ihnen zu dieſer auch vollkommene Furchtloſigkeit verleihen. Das aber ſchien ſpaͤtern Politikern noch gefaͤhrlicher, daß Sparta’s Geronten nach eigenem Dafuͤrhalten, und nicht nach geſchriebenen Geſetzen, ihr Amt verwalteten, aber nur deswegen, weil ſie die Macht des Herkom- 1 S. oben S. 79. 2 Ariſt. 2, 6, 18. 3 4, 5, 11. 4 Vgl. zum Folgenden Ariſtot.-Pol. 2, 6, 17. 2, 7, 6. Plut. Lyk. a. O. 5 τὴν κατἀ γῆϱας σώφϱονα δύναμιν nennt ſie Plato Geſetze 3, 692 a.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/99
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/99>, abgerufen am 21.11.2024.