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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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Beziehung in sich haben, denn Chöre ohne eine Cul-
tushandlung sind etwas Unerhörtes. Es muß also die
Empfindung, welche diese Gattung der Lyrik aus-
spricht, wenn sie auch vorzugsweise einen Einzelnen
bewegt, doch von der Art sein, daß ein ganzes Volk
daran Antheil nehmen mag; und das Thema, wenn
auch durch ganz andre Anlässe gegeben, doch Bezie-
hung auf religiöse Ideen und eine mythische Behand-
lung gestatten.

10.

Soviel zur Bestimmung des Begriffs Dori-
scher Lyrik. Fragen wir nunmehr nach dem geschicht-
lichen Grunde, der grade dieser Gattung das Gepräge
dieses Volkstamms gegeben: so sind die ersten Umstän-
de, die uns in die Augen fallen, mehr befremdend als
aufklärend. Nämlich: erstens versteht es sich von selbst,
daß keine Stadt von Griechenland der chorischen Poesie
ganz entbehrte, und Prosodien, Päanen, Dithyramben,
sobald die Gattungen da waren, bald von einem Ende
Griechenlands zum andern ertönten. Zweitens sind auch
unter den größten Gründern und Meistern Dorischer
Lyrik nur die geringere Anzahl Dorier, die andern
Aeolischer oder Jonischer Herkunft. Terpandros, der
alte Päanensänger, Arion, der den Dithyramb erfun-
den, Pindaros endlich sind Aeoler, Ibykos von Rhegion,
Bakchylides und Simonides von Keos Jonier; und von
den bekannteren sind nur Stesichoros von Himera und
Alkman, ein Lakone von Geburt, wenn auch von Her-
kunft ein Lyder, Dorier zu nennen. Indessen vereint
sich das Letztre mit der obigen Ansicht durch die Ueber-
legung, daß sich in der Heimat dieser chorischen Poe-
sie wohl zeitig ein gewisser nationaler Styl festgestellt
hatte, an den sich die städtischen Dichter insgemein
anschlossen, während auswärts der Poet mehr an sich
gewiesen, und sein Talent mit individueller Freiheit

Beziehung in ſich haben, denn Choͤre ohne eine Cul-
tushandlung ſind etwas Unerhoͤrtes. Es muß alſo die
Empfindung, welche dieſe Gattung der Lyrik aus-
ſpricht, wenn ſie auch vorzugsweiſe einen Einzelnen
bewegt, doch von der Art ſein, daß ein ganzes Volk
daran Antheil nehmen mag; und das Thema, wenn
auch durch ganz andre Anlaͤſſe gegeben, doch Bezie-
hung auf religioͤſe Ideen und eine mythiſche Behand-
lung geſtatten.

10.

Soviel zur Beſtimmung des Begriffs Dori-
ſcher Lyrik. Fragen wir nunmehr nach dem geſchicht-
lichen Grunde, der grade dieſer Gattung das Gepraͤge
dieſes Volkſtamms gegeben: ſo ſind die erſten Umſtaͤn-
de, die uns in die Augen fallen, mehr befremdend als
aufklaͤrend. Naͤmlich: erſtens verſteht es ſich von ſelbſt,
daß keine Stadt von Griechenland der choriſchen Poëſie
ganz entbehrte, und Proſodien, Paͤanen, Dithyramben,
ſobald die Gattungen da waren, bald von einem Ende
Griechenlands zum andern ertoͤnten. Zweitens ſind auch
unter den groͤßten Gruͤndern und Meiſtern Doriſcher
Lyrik nur die geringere Anzahl Dorier, die andern
Aeoliſcher oder Joniſcher Herkunft. Terpandros, der
alte Paͤanenſaͤnger, Arion, der den Dithyramb erfun-
den, Pindaros endlich ſind Aeoler, Ibykos von Rhegion,
Bakchylides und Simonides von Keos Jonier; und von
den bekannteren ſind nur Steſichoros von Himera und
Alkman, ein Lakone von Geburt, wenn auch von Her-
kunft ein Lyder, Dorier zu nennen. Indeſſen vereint
ſich das Letztre mit der obigen Anſicht durch die Ueber-
legung, daß ſich in der Heimat dieſer choriſchen Poë-
ſie wohl zeitig ein gewiſſer nationaler Styl feſtgeſtellt
hatte, an den ſich die ſtaͤdtiſchen Dichter insgemein
anſchloſſen, waͤhrend auswaͤrts der Poët mehr an ſich
gewieſen, und ſein Talent mit individueller Freiheit

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[372/0378] Beziehung in ſich haben, denn Choͤre ohne eine Cul- tushandlung ſind etwas Unerhoͤrtes. Es muß alſo die Empfindung, welche dieſe Gattung der Lyrik aus- ſpricht, wenn ſie auch vorzugsweiſe einen Einzelnen bewegt, doch von der Art ſein, daß ein ganzes Volk daran Antheil nehmen mag; und das Thema, wenn auch durch ganz andre Anlaͤſſe gegeben, doch Bezie- hung auf religioͤſe Ideen und eine mythiſche Behand- lung geſtatten. 10. Soviel zur Beſtimmung des Begriffs Dori- ſcher Lyrik. Fragen wir nunmehr nach dem geſchicht- lichen Grunde, der grade dieſer Gattung das Gepraͤge dieſes Volkſtamms gegeben: ſo ſind die erſten Umſtaͤn- de, die uns in die Augen fallen, mehr befremdend als aufklaͤrend. Naͤmlich: erſtens verſteht es ſich von ſelbſt, daß keine Stadt von Griechenland der choriſchen Poëſie ganz entbehrte, und Proſodien, Paͤanen, Dithyramben, ſobald die Gattungen da waren, bald von einem Ende Griechenlands zum andern ertoͤnten. Zweitens ſind auch unter den groͤßten Gruͤndern und Meiſtern Doriſcher Lyrik nur die geringere Anzahl Dorier, die andern Aeoliſcher oder Joniſcher Herkunft. Terpandros, der alte Paͤanenſaͤnger, Arion, der den Dithyramb erfun- den, Pindaros endlich ſind Aeoler, Ibykos von Rhegion, Bakchylides und Simonides von Keos Jonier; und von den bekannteren ſind nur Steſichoros von Himera und Alkman, ein Lakone von Geburt, wenn auch von Her- kunft ein Lyder, Dorier zu nennen. Indeſſen vereint ſich das Letztre mit der obigen Anſicht durch die Ueber- legung, daß ſich in der Heimat dieſer choriſchen Poë- ſie wohl zeitig ein gewiſſer nationaler Styl feſtgeſtellt hatte, an den ſich die ſtaͤdtiſchen Dichter insgemein anſchloſſen, waͤhrend auswaͤrts der Poët mehr an ſich gewieſen, und ſein Talent mit individueller Freiheit

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/378>, abgerufen am 03.12.2024.