mens und der alten Gewohnheit (der agrapha nomima, patrioi nomoi) 1 nicht in Anschlag brachten, die voll- kommen zwingend, so lange die innere Einheit eines Volkes noch nicht zerrissen und aufgehoben ist. Auf ungeschriebenen Gesetzen, die im Herzen der Bürger wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren, beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar- tiaten, und dies sprach sich durch den Mund der er- fahrenen Greise, welche die Gesammtheit frei als die Besten erlesen hatte, gewiß am richtigsten aus. Tau- send geschriebene Gesetze lassen immer noch eine Lücke, wo die Willkühr eintritt, wenn jene nicht selbst orga- nisch in sich zusammenhängend, auch völlige Kraft ha- ben, das fehlende zu ergänzen; diese Kraft enthält aber allein das mit der Nation geborene und gewordene Recht, welches durch die, unter Aufsicht der Besten ge- stellte, Sitte ohne Zweifel sicherer als durch Schrift festgehalten wird.
So urtheilen wir denn überhaupt über die Geru- sia, daß sie ein schönes Denkmal sei althellenischer Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Größe, rei- nem Vertrauen zeuge, das auf die sittliche Würde und auf die väterliche Weisheit derer, die ein langes Leben erprobt hatte, und denen das Volk nun sein Wohl an- heim stellte, bauen mochte.
3.
Die Funktionen der Gerusia sind doppelt, die einer Regierungsbehörde und eines Gerichts. In ersterem Be- zuge berathschlagte sie mit den Königen über alle größeren Angelegenheiten so weit, daß sie zur Entscheidung der Volksversammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit der Stimmen einen Vorbeschluß ab 2, dessen Gewicht
1 Am besten unter den Alten redet vielleicht Platon von die- sen, ebd. 7. S. 793.
2 Plut. Agis 11. tous gerontas, ois to kratos en en to probouleuein. Vgl. Demosth. Leptin. a. O. d[ - 1 Zeichen fehlt]spotes esti ton pollon. vgl. Aeschin. g. Timarch 25, 35.
mens und der alten Gewohnheit (der ἄγραφα νόμιμα, πάτϱιοι νόμοι) 1 nicht in Anſchlag brachten, die voll- kommen zwingend, ſo lange die innere Einheit eines Volkes noch nicht zerriſſen und aufgehoben iſt. Auf ungeſchriebenen Geſetzen, die im Herzen der Buͤrger wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren, beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar- tiaten, und dies ſprach ſich durch den Mund der er- fahrenen Greiſe, welche die Geſammtheit frei als die Beſten erleſen hatte, gewiß am richtigſten aus. Tau- ſend geſchriebene Geſetze laſſen immer noch eine Luͤcke, wo die Willkuͤhr eintritt, wenn jene nicht ſelbſt orga- niſch in ſich zuſammenhaͤngend, auch voͤllige Kraft ha- ben, das fehlende zu ergaͤnzen; dieſe Kraft enthaͤlt aber allein das mit der Nation geborene und gewordene Recht, welches durch die, unter Aufſicht der Beſten ge- ſtellte, Sitte ohne Zweifel ſicherer als durch Schrift feſtgehalten wird.
So urtheilen wir denn uͤberhaupt uͤber die Geru- ſia, daß ſie ein ſchoͤnes Denkmal ſei althelleniſcher Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Groͤße, rei- nem Vertrauen zeuge, das auf die ſittliche Wuͤrde und auf die vaͤterliche Weisheit derer, die ein langes Leben erprobt hatte, und denen das Volk nun ſein Wohl an- heim ſtellte, bauen mochte.
3.
Die Funktionen der Geruſia ſind doppelt, die einer Regierungsbehoͤrde und eines Gerichts. In erſterem Be- zuge berathſchlagte ſie mit den Koͤnigen uͤber alle groͤßeren Angelegenheiten ſo weit, daß ſie zur Entſcheidung der Volksverſammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit der Stimmen einen Vorbeſchluß ab 2, deſſen Gewicht
1 Am beſten unter den Alten redet vielleicht Platon von die- ſen, ebd. 7. S. 793.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0100"n="94"/>
mens und der alten Gewohnheit (der ἄγραφανόμιμα,<lb/>πάτϱιοινόμοι) <noteplace="foot"n="1">Am beſten unter den Alten redet vielleicht Platon von die-<lb/>ſen, ebd. 7. S. 793.</note> nicht in Anſchlag brachten, die voll-<lb/>
kommen zwingend, ſo lange die innere Einheit eines<lb/>
Volkes noch nicht zerriſſen und aufgehoben iſt. Auf<lb/>
ungeſchriebenen Geſetzen, die im Herzen der Buͤrger<lb/>
wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren,<lb/>
beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar-<lb/>
tiaten, und dies ſprach ſich durch den Mund der er-<lb/>
fahrenen Greiſe, welche die Geſammtheit frei als die<lb/><hirendition="#g">Beſten</hi> erleſen hatte, gewiß am richtigſten aus. Tau-<lb/>ſend geſchriebene Geſetze laſſen immer noch eine Luͤcke,<lb/>
wo die Willkuͤhr eintritt, wenn jene nicht ſelbſt orga-<lb/>
niſch in ſich zuſammenhaͤngend, auch voͤllige Kraft ha-<lb/>
ben, das fehlende zu ergaͤnzen; dieſe Kraft enthaͤlt aber<lb/>
allein das mit der Nation geborene und gewordene<lb/>
Recht, welches durch die, unter Aufſicht der Beſten ge-<lb/>ſtellte, Sitte ohne Zweifel ſicherer als durch Schrift<lb/>
feſtgehalten wird.</p><lb/><p>So urtheilen wir denn uͤberhaupt uͤber die Geru-<lb/>ſia, daß ſie ein ſchoͤnes Denkmal ſei althelleniſcher<lb/>
Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Groͤße, rei-<lb/>
nem Vertrauen zeuge, das auf die ſittliche Wuͤrde und<lb/>
auf die vaͤterliche Weisheit derer, die ein langes Leben<lb/>
erprobt hatte, und denen das Volk nun ſein Wohl an-<lb/>
heim ſtellte, bauen mochte.</p></div><lb/><divn="3"><head>3.</head><lb/><p>Die Funktionen der Geruſia ſind doppelt, die einer<lb/>
Regierungsbehoͤrde und eines Gerichts. In erſterem Be-<lb/>
zuge berathſchlagte ſie mit den Koͤnigen uͤber alle groͤßeren<lb/>
Angelegenheiten ſo weit, daß ſie zur Entſcheidung der<lb/>
Volksverſammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit<lb/>
der Stimmen einen Vorbeſchluß ab <notexml:id="seg2pn_11_1"next="#seg2pn_11_2"place="foot"n="2">Plut. Agis 11. τοὺςγέϱοντας, οἰς<lb/>τὸκϱἀτοςἦνἐντῷπϱοβουλεύειν. Vgl. Demoſth. Leptin. a. O.<lb/>δ<gapunit="chars"quantity="1"/>σπότηςἐστὶτῶνπολλῶν. vgl. Aeſchin. g. Timarch 25, 35.</note>, deſſen Gewicht<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[94/0100]
mens und der alten Gewohnheit (der ἄγραφα νόμιμα,
πάτϱιοι νόμοι) 1 nicht in Anſchlag brachten, die voll-
kommen zwingend, ſo lange die innere Einheit eines
Volkes noch nicht zerriſſen und aufgehoben iſt. Auf
ungeſchriebenen Geſetzen, die im Herzen der Buͤrger
wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren,
beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar-
tiaten, und dies ſprach ſich durch den Mund der er-
fahrenen Greiſe, welche die Geſammtheit frei als die
Beſten erleſen hatte, gewiß am richtigſten aus. Tau-
ſend geſchriebene Geſetze laſſen immer noch eine Luͤcke,
wo die Willkuͤhr eintritt, wenn jene nicht ſelbſt orga-
niſch in ſich zuſammenhaͤngend, auch voͤllige Kraft ha-
ben, das fehlende zu ergaͤnzen; dieſe Kraft enthaͤlt aber
allein das mit der Nation geborene und gewordene
Recht, welches durch die, unter Aufſicht der Beſten ge-
ſtellte, Sitte ohne Zweifel ſicherer als durch Schrift
feſtgehalten wird.
So urtheilen wir denn uͤberhaupt uͤber die Geru-
ſia, daß ſie ein ſchoͤnes Denkmal ſei althelleniſcher
Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Groͤße, rei-
nem Vertrauen zeuge, das auf die ſittliche Wuͤrde und
auf die vaͤterliche Weisheit derer, die ein langes Leben
erprobt hatte, und denen das Volk nun ſein Wohl an-
heim ſtellte, bauen mochte.
3.
Die Funktionen der Geruſia ſind doppelt, die einer
Regierungsbehoͤrde und eines Gerichts. In erſterem Be-
zuge berathſchlagte ſie mit den Koͤnigen uͤber alle groͤßeren
Angelegenheiten ſo weit, daß ſie zur Entſcheidung der
Volksverſammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit
der Stimmen einen Vorbeſchluß ab 2, deſſen Gewicht
1 Am beſten unter den Alten redet vielleicht Platon von die-
ſen, ebd. 7. S. 793.
2 Plut. Agis 11. τοὺς γέϱοντας, οἰς
τὸ κϱἀτος ἦν ἐν τῷ πϱοβουλεύειν. Vgl. Demoſth. Leptin. a. O.
δ_σπότης ἐστὶ τῶν πολλῶν. vgl. Aeſchin. g. Timarch 25, 35.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/100>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.