Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.guten oder bösen Geistes annahm, wurde der Dämonische 124. Was bei dem Unbefangenen das Eigenleben der Sinn- 125. In allen diesen Erscheinungen sehen wir die Gebilde guten oder boͤſen Geiſtes annahm, wurde der Daͤmoniſche 124. Was bei dem Unbefangenen das Eigenleben der Sinn- 125. In allen dieſen Erſcheinungen ſehen wir die Gebilde <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb n="69" facs="#f0085"/> guten oder boͤſen Geiſtes annahm, wurde der Daͤmoniſche<lb/> als heilig verehrt oder als Zauberer verbrannt.</p> </div><lb/> <div n="3"> <head>124.</head><lb/> <p>Was bei dem Unbefangenen das Eigenleben der Sinn-<lb/> lichkeit, das Spiel einer dichtenden Phantaſie, was allen<lb/> Menſchen im Traume nicht mehr wunderbar erſcheint, wird<lb/> in der Geſchichte verflucht und verehrt nach der Natur ſei-<lb/> ner Objecte. Das Geſpenſt und die Daͤmonen aller Zeiten,<lb/> die goͤttliche Viſion des Asceten, die Geiſtererſcheinung des<lb/> Magikers, das Traumobject und das Phantaſiebild des Fie-<lb/> bernden und Irren ſind eine und dieſelbe Erſcheinung. Nur<lb/> der Gegenſtand iſt verſchieden nach der Richtung einer excen-<lb/> triſchen Phantaſie, eine goͤttliche Viſion dem religioͤſen<lb/> Schwaͤrmer, dem furchtſamen ein furchtbares Phantasma, dem<lb/> aberglaͤubliſch buhleriſchen Weib der Teufelsſpuck, dem traͤu-<lb/> menden <hi rendition="#g">Egmont</hi> die Erſcheinung der Freiheit, dem Kuͤnſt-<lb/> ler ein himmliches Idol, nachdem er laͤngſt gerungen. Der<lb/> Zeitgeiſt leiht dieſem plaſtiſchen Einbilden andere Objecte.<lb/> Im Mittelalter traͤumt man auch am hellen Tage. In der<lb/> neuern Zeit hat Niemand mehr Viſionen; die Wunder der<lb/> Religion ſind zu den Wundern des Magnetismus gewor-<lb/> den. An die Stelle des Geiſterſehens iſt das magnetiſche<lb/> Hellſehen getreten.</p> </div><lb/> <div n="3"> <head>125.</head><lb/> <p><hi rendition="#g">In</hi> allen dieſen Erſcheinungen ſehen wir die Gebilde<lb/> unſerer eigenen Sinne draußen, nicht anders, wie wenn<lb/> wir das Adergewebe der Netzhaut im ſubjectiven Verſuch<lb/> draußen zu ſehen glauben. So koͤmmt es dahin, daß wir<lb/> an unſern Selbſterſcheinungen uns begeiſtern, daß wir ſie<lb/> anbeten, daß ein Geiſtesvermoͤgen vor den Producten des<lb/> Andern ſich entſetzet.</p> </div> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </body> </text> </TEI> [69/0085]
guten oder boͤſen Geiſtes annahm, wurde der Daͤmoniſche
als heilig verehrt oder als Zauberer verbrannt.
124.
Was bei dem Unbefangenen das Eigenleben der Sinn-
lichkeit, das Spiel einer dichtenden Phantaſie, was allen
Menſchen im Traume nicht mehr wunderbar erſcheint, wird
in der Geſchichte verflucht und verehrt nach der Natur ſei-
ner Objecte. Das Geſpenſt und die Daͤmonen aller Zeiten,
die goͤttliche Viſion des Asceten, die Geiſtererſcheinung des
Magikers, das Traumobject und das Phantaſiebild des Fie-
bernden und Irren ſind eine und dieſelbe Erſcheinung. Nur
der Gegenſtand iſt verſchieden nach der Richtung einer excen-
triſchen Phantaſie, eine goͤttliche Viſion dem religioͤſen
Schwaͤrmer, dem furchtſamen ein furchtbares Phantasma, dem
aberglaͤubliſch buhleriſchen Weib der Teufelsſpuck, dem traͤu-
menden Egmont die Erſcheinung der Freiheit, dem Kuͤnſt-
ler ein himmliches Idol, nachdem er laͤngſt gerungen. Der
Zeitgeiſt leiht dieſem plaſtiſchen Einbilden andere Objecte.
Im Mittelalter traͤumt man auch am hellen Tage. In der
neuern Zeit hat Niemand mehr Viſionen; die Wunder der
Religion ſind zu den Wundern des Magnetismus gewor-
den. An die Stelle des Geiſterſehens iſt das magnetiſche
Hellſehen getreten.
125.
In allen dieſen Erſcheinungen ſehen wir die Gebilde
unſerer eigenen Sinne draußen, nicht anders, wie wenn
wir das Adergewebe der Netzhaut im ſubjectiven Verſuch
draußen zu ſehen glauben. So koͤmmt es dahin, daß wir
an unſern Selbſterſcheinungen uns begeiſtern, daß wir ſie
anbeten, daß ein Geiſtesvermoͤgen vor den Producten des
Andern ſich entſetzet.
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Zitationshilfe: | Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/85>, abgerufen am 03.03.2025. |