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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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eines Chorschülers, der sich sein Brodt vor den
Thüren ersingen muß, ist auch wirklich ein sehr
trauriges Leben. Wenn einer den Muth nicht
ganz dabei verliert, so ist das gewiß ein seltner
Fall. -- Die meisten werden am Ende nieder¬
trächtig gesinnet, und verlieren, wenn sie es
einmal geworden sind, nie ganz die Spur davon.

Einen sonderbaren Eindruck auf Reisern machte
das sogenannte Neujahrsingen, welches drei Tage
nacheinander dauert, und wegen der seht ab¬
wechselnden Scenen, die dabei vorfallen, mit ei¬
nem Zuge auf Abentheuer sehr viel Aehnliches
hat -- Ein Häufchen Chorschüler steht in
Schnee und Kälte dicht aneinander gedrängt auf
der Straße, bis ein Bote der von Zeit zu Zeit
abgeschickt wird, die Nachricht bringt, daß in
irgend einem Hause soll gesungen werden. --
Dann geht man in das Haus hinein, und wird
gemeiniglich in die Stube genöthigt, wo denn
erst eine Arie oder Motette, die sich auf die Zeit
paßt gesungen wird. -- Alsdenn pflegt man¬
cher Hauswirth so höflich zu seyn, und die Chor¬
schüler mit Wein oder Kaffe, und Kuchen zu

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eines Chorſchuͤlers, der ſich ſein Brodt vor den
Thuͤren erſingen muß, iſt auch wirklich ein ſehr
trauriges Leben. Wenn einer den Muth nicht
ganz dabei verliert, ſo iſt das gewiß ein ſeltner
Fall. — Die meiſten werden am Ende nieder¬
traͤchtig geſinnet, und verlieren, wenn ſie es
einmal geworden ſind, nie ganz die Spur davon.

Einen ſonderbaren Eindruck auf Reiſern machte
das ſogenannte Neujahrſingen, welches drei Tage
nacheinander dauert, und wegen der ſeht ab¬
wechſelnden Scenen, die dabei vorfallen, mit ei¬
nem Zuge auf Abentheuer ſehr viel Aehnliches
hat — Ein Haͤufchen Chorſchuͤler ſteht in
Schnee und Kaͤlte dicht aneinander gedraͤngt auf
der Straße, bis ein Bote der von Zeit zu Zeit
abgeſchickt wird, die Nachricht bringt, daß in
irgend einem Hauſe ſoll geſungen werden. —
Dann geht man in das Haus hinein, und wird
gemeiniglich in die Stube genoͤthigt, wo denn
erſt eine Arie oder Motette, die ſich auf die Zeit
paßt geſungen wird. — Alsdenn pflegt man¬
cher Hauswirth ſo hoͤflich zu ſeyn, und die Chor¬
ſchuͤler mit Wein oder Kaffe, und Kuchen zu

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[89/0099] eines Chorſchuͤlers, der ſich ſein Brodt vor den Thuͤren erſingen muß, iſt auch wirklich ein ſehr trauriges Leben. Wenn einer den Muth nicht ganz dabei verliert, ſo iſt das gewiß ein ſeltner Fall. — Die meiſten werden am Ende nieder¬ traͤchtig geſinnet, und verlieren, wenn ſie es einmal geworden ſind, nie ganz die Spur davon. Einen ſonderbaren Eindruck auf Reiſern machte das ſogenannte Neujahrſingen, welches drei Tage nacheinander dauert, und wegen der ſeht ab¬ wechſelnden Scenen, die dabei vorfallen, mit ei¬ nem Zuge auf Abentheuer ſehr viel Aehnliches hat — Ein Haͤufchen Chorſchuͤler ſteht in Schnee und Kaͤlte dicht aneinander gedraͤngt auf der Straße, bis ein Bote der von Zeit zu Zeit abgeſchickt wird, die Nachricht bringt, daß in irgend einem Hauſe ſoll geſungen werden. — Dann geht man in das Haus hinein, und wird gemeiniglich in die Stube genoͤthigt, wo denn erſt eine Arie oder Motette, die ſich auf die Zeit paßt geſungen wird. — Alsdenn pflegt man¬ cher Hauswirth ſo hoͤflich zu ſeyn, und die Chor¬ ſchuͤler mit Wein oder Kaffe, und Kuchen zu F 5

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/99>, abgerufen am 26.04.2024.