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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.

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daß ich oft eine Neigung in mir wahrnahm, mich in das Mühlgerenne einer Wassermühle hinabzustürzen. Jch kenne Leute, die, wenn sie einen bloßen Degen in der Hand halten, einen Trieb in sich fühlen, den Anwesenden zu verwunden, sich ein vor sich liegendes Scheermesser an die Kehle zu setzen u.s.w. Viele dergleichen Fälle, wo man sich in eine Gefahr hineinzustürzen, einen Drang empfindet, ob man sich gleich davor fürchtet, lassen sich aus einerdunkeln Neugierde erklären, indem man, ob man sichs gleich nicht deutlich vorstellt, zu erfahren wünscht: wie einem in der Gefahr selbst zu Muthe seyn mögte. Oft kann auch der bloße Anblick der Gefahr auf eine mechanische Art unsre Empfindungen in Aufruhr bringen. Das schnell über das Mühlgerenne herabstürzende Wasser nöthigt uns gleichsam das mechanische Gefühl ab, daß wir mit fortschwimmen müßten, und wir handeln dann eben so instinctartig, als ein Thier, welches zu laufen anfängt, wenn das vorhergehende läuft. Billig sollte man dergleichen Fälle, wo wir ganz mechanisch handeln, bey den Beurtheilungen des Selbstmordes mehr von einer physischen als moralischen Seite betrachten, und überhaupt da, wo die Menschen ganz außerordentlich albern, oder böse zu handeln scheinen, sie mit weiser Schonung richten, weil man in hundert Fällen voraussehen kann, daß ein unwillkürlicher Stoß ihrer Leidenschaften sie verführt hat.




daß ich oft eine Neigung in mir wahrnahm, mich in das Muͤhlgerenne einer Wassermuͤhle hinabzustuͤrzen. Jch kenne Leute, die, wenn sie einen bloßen Degen in der Hand halten, einen Trieb in sich fuͤhlen, den Anwesenden zu verwunden, sich ein vor sich liegendes Scheermesser an die Kehle zu setzen u.s.w. Viele dergleichen Faͤlle, wo man sich in eine Gefahr hineinzustuͤrzen, einen Drang empfindet, ob man sich gleich davor fuͤrchtet, lassen sich aus einerdunkeln Neugierde erklaͤren, indem man, ob man sichs gleich nicht deutlich vorstellt, zu erfahren wuͤnscht: wie einem in der Gefahr selbst zu Muthe seyn moͤgte. Oft kann auch der bloße Anblick der Gefahr auf eine mechanische Art unsre Empfindungen in Aufruhr bringen. Das schnell uͤber das Muͤhlgerenne herabstuͤrzende Wasser noͤthigt uns gleichsam das mechanische Gefuͤhl ab, daß wir mit fortschwimmen muͤßten, und wir handeln dann eben so instinctartig, als ein Thier, welches zu laufen anfaͤngt, wenn das vorhergehende laͤuft. Billig sollte man dergleichen Faͤlle, wo wir ganz mechanisch handeln, bey den Beurtheilungen des Selbstmordes mehr von einer physischen als moralischen Seite betrachten, und uͤberhaupt da, wo die Menschen ganz außerordentlich albern, oder boͤse zu handeln scheinen, sie mit weiser Schonung richten, weil man in hundert Faͤllen voraussehen kann, daß ein unwillkuͤrlicher Stoß ihrer Leidenschaften sie verfuͤhrt hat.



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[12/0012] daß ich oft eine Neigung in mir wahrnahm, mich in das Muͤhlgerenne einer Wassermuͤhle hinabzustuͤrzen. Jch kenne Leute, die, wenn sie einen bloßen Degen in der Hand halten, einen Trieb in sich fuͤhlen, den Anwesenden zu verwunden, sich ein vor sich liegendes Scheermesser an die Kehle zu setzen u.s.w. Viele dergleichen Faͤlle, wo man sich in eine Gefahr hineinzustuͤrzen, einen Drang empfindet, ob man sich gleich davor fuͤrchtet, lassen sich aus einerdunkeln Neugierde erklaͤren, indem man, ob man sichs gleich nicht deutlich vorstellt, zu erfahren wuͤnscht: wie einem in der Gefahr selbst zu Muthe seyn moͤgte. Oft kann auch der bloße Anblick der Gefahr auf eine mechanische Art unsre Empfindungen in Aufruhr bringen. Das schnell uͤber das Muͤhlgerenne herabstuͤrzende Wasser noͤthigt uns gleichsam das mechanische Gefuͤhl ab, daß wir mit fortschwimmen muͤßten, und wir handeln dann eben so instinctartig, als ein Thier, welches zu laufen anfaͤngt, wenn das vorhergehende laͤuft. Billig sollte man dergleichen Faͤlle, wo wir ganz mechanisch handeln, bey den Beurtheilungen des Selbstmordes mehr von einer physischen als moralischen Seite betrachten, und uͤberhaupt da, wo die Menschen ganz außerordentlich albern, oder boͤse zu handeln scheinen, sie mit weiser Schonung richten, weil man in hundert Faͤllen voraussehen kann, daß ein unwillkuͤrlicher Stoß ihrer Leidenschaften sie verfuͤhrt hat.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/12>, abgerufen am 26.04.2024.