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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

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zu fodern schlechterdings nicht unterdrücken, wenn er auch positiv weiß, daß er nichts bekommt. Tausendmahl hat er die Magd des Hauses schon um Geld gebeten, er weiß, daß sie ihm durchaus nichts geben darf, und doch ist gewöhnlich sein erstes Wort beim Aufstehen des Morgens eine an die Magd gerichtete Bitte, ihm Geld zu leihen.

Neulich war ich selbst ein Zeuge von dieser seiner unwillkürlichen Begierde zur Bettelei. Er kam, einem jungen Ehepaar, das mit ihm verwandt ist, zu gratuliren. Jch saß bei Tische ihm gegenüber, und hatte also die beste Gelegenheit, ihn selbst zu beobachten und mit ihm zu sprechen, und meine Leser werden aus diesem Gespräch bemerken, daß es diesem Menschen, den man nach dem, was ich bisher von ihm gesagt habe, für völlig unklug halten könnte, nicht an gesundem Verstande fehlt.

Jch fragte ihn gleich anfangs, da ich bemerkte, daß er sich mit mir in ein Gespräch einlassen wollte: womit er sich bei seiner geschäftslosen Lebensart die Zeit vertriebe? und er antwortete mir: mit Lectüre. Jch hörte bald zu meinem größten Erstaunen, daß er mit einer Menge der besten deutschen Schriften bekannt war, noch mehr befremdete es mich aber, daß er sie ziemlich richtig beurtheilte und dabei ein reines Deutsch sprach, ob er gleich nie studirt hat. Er nannte mir sogar französische und englische Schriftsteller, die er gelesen hätte und noch läse, worauf er mit mir, wahrscheinlich um zu zeigen,


zu fodern schlechterdings nicht unterdruͤcken, wenn er auch positiv weiß, daß er nichts bekommt. Tausendmahl hat er die Magd des Hauses schon um Geld gebeten, er weiß, daß sie ihm durchaus nichts geben darf, und doch ist gewoͤhnlich sein erstes Wort beim Aufstehen des Morgens eine an die Magd gerichtete Bitte, ihm Geld zu leihen.

Neulich war ich selbst ein Zeuge von dieser seiner unwillkuͤrlichen Begierde zur Bettelei. Er kam, einem jungen Ehepaar, das mit ihm verwandt ist, zu gratuliren. Jch saß bei Tische ihm gegenuͤber, und hatte also die beste Gelegenheit, ihn selbst zu beobachten und mit ihm zu sprechen, und meine Leser werden aus diesem Gespraͤch bemerken, daß es diesem Menschen, den man nach dem, was ich bisher von ihm gesagt habe, fuͤr voͤllig unklug halten koͤnnte, nicht an gesundem Verstande fehlt.

Jch fragte ihn gleich anfangs, da ich bemerkte, daß er sich mit mir in ein Gespraͤch einlassen wollte: womit er sich bei seiner geschaͤftslosen Lebensart die Zeit vertriebe? und er antwortete mir: mit Lectuͤre. Jch hoͤrte bald zu meinem groͤßten Erstaunen, daß er mit einer Menge der besten deutschen Schriften bekannt war, noch mehr befremdete es mich aber, daß er sie ziemlich richtig beurtheilte und dabei ein reines Deutsch sprach, ob er gleich nie studirt hat. Er nannte mir sogar franzoͤsische und englische Schriftsteller, die er gelesen haͤtte und noch laͤse, worauf er mit mir, wahrscheinlich um zu zeigen,

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[24/0026] zu fodern schlechterdings nicht unterdruͤcken, wenn er auch positiv weiß, daß er nichts bekommt. Tausendmahl hat er die Magd des Hauses schon um Geld gebeten, er weiß, daß sie ihm durchaus nichts geben darf, und doch ist gewoͤhnlich sein erstes Wort beim Aufstehen des Morgens eine an die Magd gerichtete Bitte, ihm Geld zu leihen. Neulich war ich selbst ein Zeuge von dieser seiner unwillkuͤrlichen Begierde zur Bettelei. Er kam, einem jungen Ehepaar, das mit ihm verwandt ist, zu gratuliren. Jch saß bei Tische ihm gegenuͤber, und hatte also die beste Gelegenheit, ihn selbst zu beobachten und mit ihm zu sprechen, und meine Leser werden aus diesem Gespraͤch bemerken, daß es diesem Menschen, den man nach dem, was ich bisher von ihm gesagt habe, fuͤr voͤllig unklug halten koͤnnte, nicht an gesundem Verstande fehlt. Jch fragte ihn gleich anfangs, da ich bemerkte, daß er sich mit mir in ein Gespraͤch einlassen wollte: womit er sich bei seiner geschaͤftslosen Lebensart die Zeit vertriebe? und er antwortete mir: mit Lectuͤre. Jch hoͤrte bald zu meinem groͤßten Erstaunen, daß er mit einer Menge der besten deutschen Schriften bekannt war, noch mehr befremdete es mich aber, daß er sie ziemlich richtig beurtheilte und dabei ein reines Deutsch sprach, ob er gleich nie studirt hat. Er nannte mir sogar franzoͤsische und englische Schriftsteller, die er gelesen haͤtte und noch laͤse, worauf er mit mir, wahrscheinlich um zu zeigen,

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/26>, abgerufen am 26.04.2024.