liche Gestalt in mein Zimmer schlüpfte, diese Arme sie empfingen und sie mit ersticktem Athem rief: "Da bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir, was du willst!"
In Kurzem saßen wir im Wagen; erst fuhr ich allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete sie dort. Wir reis'ten den Tag und die Nacht hin- durch und sind vor der Hand weit genug, um nichts mehr zu fürchten. Aber welche Roth, welche süße Noth hatt' ich, den Jammer des holden Geschöpfs zu mäßigen. Sie schien jezt erst den ungeheuren Schritt zu überdenken, den sie für mich gewagt, sie quälte sich mit den bittersten Vorwürfen und dann wieder lachte sie mitten durch Thränen, mit Leiden- schaft mich an sich pressend. So kamen wir gegen Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich schreibe dieß in einem elenden Gasthof, indessen Los- kine nicht weit von mir auf schlechtem Lager eines kurzen Schlafs genießt. Getrost, gutes Herz, in we- nig Tagen zeig' ich dir eine Heimath. Du sollst die Fürstin meines Hauses seyn, wir wollen zusammen ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt soll mich nicht hindern, der Seligste unter den Men- schen zu seyn.
Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der Pfarrer machte eine Pause und Jungfer Ernestine sagte: "Er brachte sie also ins Vaterland und nahm
liche Geſtalt in mein Zimmer ſchlüpfte, dieſe Arme ſie empfingen und ſie mit erſticktem Athem rief: „Da bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir, was du willſt!“
In Kurzem ſaßen wir im Wagen; erſt fuhr ich allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete ſie dort. Wir reiſ’ten den Tag und die Nacht hin- durch und ſind vor der Hand weit genug, um nichts mehr zu fürchten. Aber welche Roth, welche ſüße Noth hatt’ ich, den Jammer des holden Geſchöpfs zu mäßigen. Sie ſchien jezt erſt den ungeheuren Schritt zu überdenken, den ſie für mich gewagt, ſie quälte ſich mit den bitterſten Vorwürfen und dann wieder lachte ſie mitten durch Thränen, mit Leiden- ſchaft mich an ſich preſſend. So kamen wir gegen Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich ſchreibe dieß in einem elenden Gaſthof, indeſſen Los- kine nicht weit von mir auf ſchlechtem Lager eines kurzen Schlafs genießt. Getroſt, gutes Herz, in we- nig Tagen zeig’ ich dir eine Heimath. Du ſollſt die Fürſtin meines Hauſes ſeyn, wir wollen zuſammen ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt ſoll mich nicht hindern, der Seligſte unter den Men- ſchen zu ſeyn.
Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der Pfarrer machte eine Pauſe und Jungfer Erneſtine ſagte: „Er brachte ſie alſo ins Vaterland und nahm
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0324"n="316"/>
liche Geſtalt in mein Zimmer ſchlüpfte, dieſe Arme<lb/>ſie empfingen und ſie mit erſticktem Athem rief: „Da<lb/>
bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir,<lb/>
was du willſt!“</p><lb/><p>In Kurzem ſaßen wir im Wagen; erſt fuhr ich<lb/>
allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete<lb/>ſie dort. Wir reiſ’ten den Tag und die Nacht hin-<lb/>
durch und ſind vor der Hand weit genug, um nichts<lb/>
mehr zu fürchten. Aber welche Roth, welche ſüße<lb/>
Noth hatt’ ich, den Jammer des holden Geſchöpfs<lb/><hirendition="#g">zu</hi> mäßigen. Sie ſchien jezt erſt den ungeheuren<lb/>
Schritt zu überdenken, den ſie für mich gewagt, ſie<lb/>
quälte ſich mit den bitterſten Vorwürfen und dann<lb/>
wieder lachte ſie mitten durch Thränen, mit Leiden-<lb/>ſchaft mich an ſich preſſend. So kamen wir gegen<lb/>
Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich<lb/>ſchreibe dieß in einem elenden Gaſthof, indeſſen <hirendition="#g">Los-<lb/>
kine</hi> nicht weit von mir auf ſchlechtem Lager eines<lb/>
kurzen Schlafs genießt. Getroſt, gutes Herz, in we-<lb/>
nig Tagen zeig’ ich dir eine Heimath. Du ſollſt die<lb/>
Fürſtin meines Hauſes ſeyn, wir wollen zuſammen<lb/>
ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt<lb/>ſoll mich nicht hindern, der Seligſte unter den Men-<lb/>ſchen zu ſeyn.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head/><p>Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der<lb/>
Pfarrer machte eine Pauſe und Jungfer <hirendition="#g">Erneſtine</hi><lb/>ſagte: „Er brachte ſie alſo ins Vaterland und nahm<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[316/0324]
liche Geſtalt in mein Zimmer ſchlüpfte, dieſe Arme
ſie empfingen und ſie mit erſticktem Athem rief: „Da
bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir,
was du willſt!“
In Kurzem ſaßen wir im Wagen; erſt fuhr ich
allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete
ſie dort. Wir reiſ’ten den Tag und die Nacht hin-
durch und ſind vor der Hand weit genug, um nichts
mehr zu fürchten. Aber welche Roth, welche ſüße
Noth hatt’ ich, den Jammer des holden Geſchöpfs
zu mäßigen. Sie ſchien jezt erſt den ungeheuren
Schritt zu überdenken, den ſie für mich gewagt, ſie
quälte ſich mit den bitterſten Vorwürfen und dann
wieder lachte ſie mitten durch Thränen, mit Leiden-
ſchaft mich an ſich preſſend. So kamen wir gegen
Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich
ſchreibe dieß in einem elenden Gaſthof, indeſſen Los-
kine nicht weit von mir auf ſchlechtem Lager eines
kurzen Schlafs genießt. Getroſt, gutes Herz, in we-
nig Tagen zeig’ ich dir eine Heimath. Du ſollſt die
Fürſtin meines Hauſes ſeyn, wir wollen zuſammen
ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt
ſoll mich nicht hindern, der Seligſte unter den Men-
ſchen zu ſeyn.
Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der
Pfarrer machte eine Pauſe und Jungfer Erneſtine
ſagte: „Er brachte ſie alſo ins Vaterland und nahm
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/324>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.