Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.Lose Waare. "Tinte! Tinte kauft ab! Schön schwarze Tinte verkauf' ich:" Rief ein Büblein gar hell Straßen hinauf und hinab. Lachend traf sein feuriger Blick mich oben im Fenster, Eh' ich mich's irgend versah, huscht er ins Zimmer herein. Knabe, dich rief Niemand! -- "Herr! meine Waare ver¬ sucht nur!" Und sein Fäßchen behend schwang er vom Rücken herum. Da verschob sich das halbzerrissene Jäckchen ein wenig An der Schulter und hell schimmert ein Flügel hervor. Ei, laß sehen, mein Sohn! du führst auch Federn im Handel? Amor, verkleideter Schelm! soll ich dich rupfen sogleich? Und er lächelt, entlarvt und legt auf die Lippen den Finger: "Stille! sie sind nicht verzollt -- stört die Geschäfte mir nicht! Gebt das Gefäß, ich füll' es umsonst, und bleiben wir Freunde!" Dies gesagt und gethan, schlüpft er zur Thüre hinaus. -- Angeführt hat er mich doch: denn will ich was Nützliches schreiben, Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus. Loſe Waare. „Tinte! Tinte kauft ab! Schoͤn ſchwarze Tinte verkauf' ich:“ Rief ein Buͤblein gar hell Straßen hinauf und hinab. Lachend traf ſein feuriger Blick mich oben im Fenſter, Eh' ich mich's irgend verſah, huſcht er ins Zimmer herein. Knabe, dich rief Niemand! — „Herr! meine Waare ver¬ ſucht nur!“ Und ſein Faͤßchen behend ſchwang er vom Ruͤcken herum. Da verſchob ſich das halbzerriſſene Jaͤckchen ein wenig An der Schulter und hell ſchimmert ein Fluͤgel hervor. Ei, laß ſehen, mein Sohn! du fuͤhrſt auch Federn im Handel? Amor, verkleideter Schelm! ſoll ich dich rupfen ſogleich? Und er laͤchelt, entlarvt und legt auf die Lippen den Finger: „Stille! ſie ſind nicht verzollt — ſtoͤrt die Geſchaͤfte mir nicht! Gebt das Gefaͤß, ich fuͤll' es umſonſt, und bleiben wir Freunde!“ Dies geſagt und gethan, ſchluͤpft er zur Thuͤre hinaus. — Angefuͤhrt hat er mich doch: denn will ich was Nuͤtzliches ſchreiben, Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb n="103" facs="#f0119"/> </div> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">Loſe Waare.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <l>„Tinte! Tinte kauft ab! Schoͤn ſchwarze Tinte verkauf' ich:“</l><lb/> <l>Rief ein Buͤblein gar hell Straßen hinauf und hinab.</l><lb/> <l>Lachend traf ſein feuriger Blick mich oben im Fenſter,</l><lb/> <l>Eh' ich mich's irgend verſah, huſcht er ins Zimmer herein.</l><lb/> <l>Knabe, dich rief Niemand! — „Herr! meine Waare ver¬<lb/><hi rendition="#et">ſucht nur!“</hi></l><lb/> <l>Und ſein Faͤßchen behend ſchwang er vom Ruͤcken<lb/><hi rendition="#et">herum.</hi></l><lb/> <l>Da verſchob ſich das halbzerriſſene Jaͤckchen ein wenig</l><lb/> <l>An der Schulter und hell ſchimmert ein Fluͤgel hervor.</l><lb/> <l>Ei, laß ſehen, mein Sohn! du fuͤhrſt auch Federn im<lb/><hi rendition="#et">Handel?</hi></l><lb/> <l>Amor, verkleideter Schelm! ſoll ich dich rupfen ſogleich?</l><lb/> <l>Und er laͤchelt, entlarvt und legt auf die Lippen den<lb/><hi rendition="#et">Finger:</hi></l><lb/> <l>„Stille! ſie ſind nicht verzollt — ſtoͤrt die Geſchaͤfte<lb/><hi rendition="#et">mir nicht!</hi></l><lb/> <l>Gebt das Gefaͤß, ich fuͤll' es umſonſt, und bleiben wir<lb/><hi rendition="#et">Freunde!“</hi></l><lb/> <l>Dies geſagt und gethan, ſchluͤpft er zur Thuͤre hinaus. —</l><lb/> <l>Angefuͤhrt hat er mich doch: denn will ich was Nuͤtzliches<lb/><hi rendition="#et">ſchreiben,</hi></l><lb/> <l>Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus.</l><lb/> </lg> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </body> </text> </TEI> [103/0119]
Loſe Waare.
„Tinte! Tinte kauft ab! Schoͤn ſchwarze Tinte verkauf' ich:“
Rief ein Buͤblein gar hell Straßen hinauf und hinab.
Lachend traf ſein feuriger Blick mich oben im Fenſter,
Eh' ich mich's irgend verſah, huſcht er ins Zimmer herein.
Knabe, dich rief Niemand! — „Herr! meine Waare ver¬
ſucht nur!“
Und ſein Faͤßchen behend ſchwang er vom Ruͤcken
herum.
Da verſchob ſich das halbzerriſſene Jaͤckchen ein wenig
An der Schulter und hell ſchimmert ein Fluͤgel hervor.
Ei, laß ſehen, mein Sohn! du fuͤhrſt auch Federn im
Handel?
Amor, verkleideter Schelm! ſoll ich dich rupfen ſogleich?
Und er laͤchelt, entlarvt und legt auf die Lippen den
Finger:
„Stille! ſie ſind nicht verzollt — ſtoͤrt die Geſchaͤfte
mir nicht!
Gebt das Gefaͤß, ich fuͤll' es umſonſt, und bleiben wir
Freunde!“
Dies geſagt und gethan, ſchluͤpft er zur Thuͤre hinaus. —
Angefuͤhrt hat er mich doch: denn will ich was Nuͤtzliches
ſchreiben,
Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus.
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Zitationshilfe: | Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/119>, abgerufen am 04.03.2025. |