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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Einsamkeit immer trauriger und unerträglicher
wurde.

Acht Tage vor Ostern bekam er von seinem Va-
ter einen Wechsel, Reisegeld, und einen Brief an
den Hofrath Fischer in Jngolstadt, dem er, als
seinem alten Freunde, seinen Sohn empfahl. Sieg-
wart brachte seine Sachen in Ordnung, um gleich
nach Ostern abgehen zu können. Er schrieb auch
seinem Kronhelm, daß er ihm, wo möglich, ein
paar Stunden weit entgegen kommen möchte. Der
Abschied wurd ihm blos um des P. Philipps,
und einigermassen um der Grünbachischen Fami-
lie willen schwer. Ein paar Tage vor der Reise
gieng er noch in das Nonnenkloster, wo Sophie
gestorben war. Er besuchte ihr Grab, und weihte
dem Andenken des unglücklichen Mädchens seine
Zähren. Leb wohl, theurer Staub, sagte er bey
sich, beym Weggehn! Leb wohl, Ueberrest So-
phiens! Jhr Beyspiel soll mich dulden lehren,
wenn ich leiden muß. Jch will dir treu seyn,
und dein Bräutigam im Himmel werden. Hier-
auf gieng er nach Haus, und las ihr Tagebuch
wieder mit zwiefacher Rührung durch. Den an-
dern Tag nahm er von ihren Eltern, und von
ihrem Bruder Abschied. Sein Herz ward sehr



Einſamkeit immer trauriger und unertraͤglicher
wurde.

Acht Tage vor Oſtern bekam er von ſeinem Va-
ter einen Wechſel, Reiſegeld, und einen Brief an
den Hofrath Fiſcher in Jngolſtadt, dem er, als
ſeinem alten Freunde, ſeinen Sohn empfahl. Sieg-
wart brachte ſeine Sachen in Ordnung, um gleich
nach Oſtern abgehen zu koͤnnen. Er ſchrieb auch
ſeinem Kronhelm, daß er ihm, wo moͤglich, ein
paar Stunden weit entgegen kommen moͤchte. Der
Abſchied wurd ihm blos um des P. Philipps,
und einigermaſſen um der Gruͤnbachiſchen Fami-
lie willen ſchwer. Ein paar Tage vor der Reiſe
gieng er noch in das Nonnenkloſter, wo Sophie
geſtorben war. Er beſuchte ihr Grab, und weihte
dem Andenken des ungluͤcklichen Maͤdchens ſeine
Zaͤhren. Leb wohl, theurer Staub, ſagte er bey
ſich, beym Weggehn! Leb wohl, Ueberreſt So-
phiens! Jhr Beyſpiel ſoll mich dulden lehren,
wenn ich leiden muß. Jch will dir treu ſeyn,
und dein Braͤutigam im Himmel werden. Hier-
auf gieng er nach Haus, und las ihr Tagebuch
wieder mit zwiefacher Ruͤhrung durch. Den an-
dern Tag nahm er von ihren Eltern, und von
ihrem Bruder Abſchied. Sein Herz ward ſehr

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[534/0114] Einſamkeit immer trauriger und unertraͤglicher wurde. Acht Tage vor Oſtern bekam er von ſeinem Va- ter einen Wechſel, Reiſegeld, und einen Brief an den Hofrath Fiſcher in Jngolſtadt, dem er, als ſeinem alten Freunde, ſeinen Sohn empfahl. Sieg- wart brachte ſeine Sachen in Ordnung, um gleich nach Oſtern abgehen zu koͤnnen. Er ſchrieb auch ſeinem Kronhelm, daß er ihm, wo moͤglich, ein paar Stunden weit entgegen kommen moͤchte. Der Abſchied wurd ihm blos um des P. Philipps, und einigermaſſen um der Gruͤnbachiſchen Fami- lie willen ſchwer. Ein paar Tage vor der Reiſe gieng er noch in das Nonnenkloſter, wo Sophie geſtorben war. Er beſuchte ihr Grab, und weihte dem Andenken des ungluͤcklichen Maͤdchens ſeine Zaͤhren. Leb wohl, theurer Staub, ſagte er bey ſich, beym Weggehn! Leb wohl, Ueberreſt So- phiens! Jhr Beyſpiel ſoll mich dulden lehren, wenn ich leiden muß. Jch will dir treu ſeyn, und dein Braͤutigam im Himmel werden. Hier- auf gieng er nach Haus, und las ihr Tagebuch wieder mit zwiefacher Ruͤhrung durch. Den an- dern Tag nahm er von ihren Eltern, und von ihrem Bruder Abſchied. Sein Herz ward ſehr

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/114>, abgerufen am 26.04.2024.