Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Der geschändete Baum.
Sie haben mit dem Beile dich zerschnitten,
Die Frevler -- hast du viel dabei gelitten?
Ich selber habe sorglich dich verbunden
Und traue: Junger Baum, du wirst gesunden!
Auch ich erlitt zu schier derselben Stunde
Von schärferm Messer eine tiefre Wunde.
Zu untersuchen komm' ich täglich deine
Und unerträglich brennen fühl' ich meine.
Du saugest gierig ein die Kraft der Erde,
Mir ist, als ob auch ich durchrieselt werde!
Der frische Saft quillt aus zerschnittner Rinde
Heilsam. Mir ist, als ob auch ich's empfinde!
Indem ich deine sich erfrischen fühle,
Ist mir, als ob sich meine Wunde kühle!
Natur beginnt zu wirken und zu weben,
Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben!
Wie viele, so verwundet, welkten, starben!
Wir beide prahlen noch mit unsern Narben!

Der geſchändete Baum.
Sie haben mit dem Beile dich zerſchnitten,
Die Frevler — haſt du viel dabei gelitten?
Ich ſelber habe ſorglich dich verbunden
Und traue: Junger Baum, du wirſt geſunden!
Auch ich erlitt zu ſchier derſelben Stunde
Von ſchärferm Meſſer eine tiefre Wunde.
Zu unterſuchen komm' ich täglich deine
Und unerträglich brennen fühl' ich meine.
Du ſaugeſt gierig ein die Kraft der Erde,
Mir iſt, als ob auch ich durchrieſelt werde!
Der friſche Saft quillt aus zerſchnittner Rinde
Heilſam. Mir iſt, als ob auch ich's empfinde!
Indem ich deine ſich erfriſchen fühle,
Iſt mir, als ob ſich meine Wunde kühle!
Natur beginnt zu wirken und zu weben,
Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben!
Wie viele, ſo verwundet, welkten, ſtarben!
Wir beide prahlen noch mit unſern Narben!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0055" n="41"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>Der ge&#x017F;chändete Baum.<lb/></head>
          <lg type="poem">
            <l>Sie haben mit dem Beile dich zer&#x017F;chnitten,</l><lb/>
            <l>Die Frevler &#x2014; ha&#x017F;t du viel dabei gelitten?</l><lb/>
            <l>Ich &#x017F;elber habe &#x017F;orglich dich verbunden</l><lb/>
            <l>Und traue: Junger Baum, du wir&#x017F;t ge&#x017F;unden!</l><lb/>
            <l>Auch ich erlitt zu &#x017F;chier der&#x017F;elben Stunde</l><lb/>
            <l>Von &#x017F;chärferm Me&#x017F;&#x017F;er eine tiefre Wunde.</l><lb/>
            <l>Zu unter&#x017F;uchen komm' ich täglich deine</l><lb/>
            <l>Und unerträglich brennen fühl' ich meine.</l><lb/>
            <l>Du &#x017F;auge&#x017F;t gierig ein die Kraft der Erde,</l><lb/>
            <l>Mir i&#x017F;t, als ob auch ich durchrie&#x017F;elt werde!</l><lb/>
            <l>Der fri&#x017F;che Saft quillt aus zer&#x017F;chnittner Rinde</l><lb/>
            <l>Heil&#x017F;am. Mir i&#x017F;t, als ob auch ich's empfinde!</l><lb/>
            <l>Indem ich <hi rendition="#g">deine</hi> &#x017F;ich erfri&#x017F;chen fühle,</l><lb/>
            <l>I&#x017F;t mir, als ob &#x017F;ich <hi rendition="#g">meine</hi> Wunde kühle!</l><lb/>
            <l>Natur beginnt zu wirken und zu weben,</l><lb/>
            <l>Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben!</l><lb/>
            <l>Wie viele, <hi rendition="#g">&#x017F;o</hi> verwundet, welkten, &#x017F;tarben!</l><lb/>
            <l>Wir beide prahlen noch mit un&#x017F;ern Narben!</l><lb/>
          </lg>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0055] Der geſchändete Baum. Sie haben mit dem Beile dich zerſchnitten, Die Frevler — haſt du viel dabei gelitten? Ich ſelber habe ſorglich dich verbunden Und traue: Junger Baum, du wirſt geſunden! Auch ich erlitt zu ſchier derſelben Stunde Von ſchärferm Meſſer eine tiefre Wunde. Zu unterſuchen komm' ich täglich deine Und unerträglich brennen fühl' ich meine. Du ſaugeſt gierig ein die Kraft der Erde, Mir iſt, als ob auch ich durchrieſelt werde! Der friſche Saft quillt aus zerſchnittner Rinde Heilſam. Mir iſt, als ob auch ich's empfinde! Indem ich deine ſich erfriſchen fühle, Iſt mir, als ob ſich meine Wunde kühle! Natur beginnt zu wirken und zu weben, Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben! Wie viele, ſo verwundet, welkten, ſtarben! Wir beide prahlen noch mit unſern Narben!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/55
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/55>, abgerufen am 22.12.2024.