Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Die verstummte Laute. Sie mochte gern an seiner Schulter lehnen In einem weichen Abenddämmerlicht, Sie barg vor ihm das Rieseln ihrer Thränen, Den halbenthüllten Reiz der Seele nicht: "Freund, einz'ger Freund auf diesem düstern Eiland, Ich welke! Chastelard, auch du bist bleich! Schlag deine Laute! Singe mir von weiland! Von meinem ersten Königreich!" Er stürmte durch die Saiten: "Jener Tage Ins Meer gesunkne Sonnen sind verblaßt! Maria Stuart! Ich erhebe Klage, Daß du geschluchzt an meinem Herzen hast! Mit deinen Zähren bade hier dem reinen, Entseelten Gott die Marmorfüße bleich -- Weib, sündlich ist's vor einem Menschen weinen Mit diesen Augen warm und weich! Was war ich dir? Der nichtige Vertraute!
Ein Echo, das von deinen Seufzern scholl! Ein Spiegel, drin sie eitel sich beschaute, Die Zähre, die dir an der Wimper quoll! War dir die Laute nur, darauf zu breiten Die Fingerspitzen und ich hallte schön -- Ich hasse dich!" Er riß entzwei die Saiten Mit einem gellen Mißgetön. Die verſtummte Laute. Sie mochte gern an ſeiner Schulter lehnen In einem weichen Abenddämmerlicht, Sie barg vor ihm das Rieſeln ihrer Thränen, Den halbenthüllten Reiz der Seele nicht: „Freund, einz'ger Freund auf dieſem düſtern Eiland, Ich welke! Chaſtelard, auch du biſt bleich! Schlag deine Laute! Singe mir von weiland! Von meinem erſten Königreich!“ Er ſtürmte durch die Saiten: „Jener Tage Ins Meer geſunkne Sonnen ſind verblaßt! Maria Stuart! Ich erhebe Klage, Daß du geſchluchzt an meinem Herzen haſt! Mit deinen Zähren bade hier dem reinen, Entſeelten Gott die Marmorfüße bleich — Weib, ſündlich iſt's vor einem Menſchen weinen Mit dieſen Augen warm und weich! Was war ich dir? Der nichtige Vertraute!
Ein Echo, das von deinen Seufzern ſcholl! Ein Spiegel, drin ſie eitel ſich beſchaute, Die Zähre, die dir an der Wimper quoll! War dir die Laute nur, darauf zu breiten Die Fingerſpitzen und ich hallte ſchön — Ich haſſe dich!“ Er riß entzwei die Saiten Mit einem gellen Mißgetön. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="316" facs="#f0330"/> </div> <div n="2"> <head>Die verſtummte Laute.<lb/></head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Sie mochte gern an ſeiner Schulter lehnen</l><lb/> <l>In einem weichen Abenddämmerlicht,</l><lb/> <l>Sie barg vor ihm das Rieſeln ihrer Thränen,</l><lb/> <l>Den halbenthüllten Reiz der Seele nicht:</l><lb/> <l>„Freund, einz'ger Freund auf dieſem düſtern Eiland,</l><lb/> <l>Ich welke! Chaſtelard, auch du biſt bleich!</l><lb/> <l>Schlag deine Laute! Singe mir von weiland!</l><lb/> <l>Von meinem erſten Königreich!“</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Er ſtürmte durch die Saiten: „Jener Tage</l><lb/> <l>Ins Meer geſunkne Sonnen ſind verblaßt!</l><lb/> <l>Maria Stuart! Ich erhebe Klage,</l><lb/> <l>Daß du geſchluchzt an meinem Herzen haſt!</l><lb/> <l>Mit deinen Zähren bade hier dem reinen,</l><lb/> <l>Entſeelten Gott die Marmorfüße bleich —</l><lb/> <l>Weib, ſündlich iſt's vor einem Menſchen weinen</l><lb/> <l>Mit dieſen Augen warm und weich!</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>Was war ich dir? Der nichtige Vertraute!</l><lb/> <l>Ein Echo, das von deinen Seufzern ſcholl!</l><lb/> <l>Ein Spiegel, drin ſie eitel ſich beſchaute,</l><lb/> <l>Die Zähre, die dir an der Wimper quoll!</l><lb/> <l>War dir die Laute nur, darauf zu breiten</l><lb/> <l>Die Fingerſpitzen und ich hallte ſchön —</l><lb/> <l>Ich haſſe dich!“ Er riß entzwei die Saiten</l><lb/> <l>Mit einem gellen Mißgetön.</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [316/0330]
Die verſtummte Laute.
Sie mochte gern an ſeiner Schulter lehnen
In einem weichen Abenddämmerlicht,
Sie barg vor ihm das Rieſeln ihrer Thränen,
Den halbenthüllten Reiz der Seele nicht:
„Freund, einz'ger Freund auf dieſem düſtern Eiland,
Ich welke! Chaſtelard, auch du biſt bleich!
Schlag deine Laute! Singe mir von weiland!
Von meinem erſten Königreich!“
Er ſtürmte durch die Saiten: „Jener Tage
Ins Meer geſunkne Sonnen ſind verblaßt!
Maria Stuart! Ich erhebe Klage,
Daß du geſchluchzt an meinem Herzen haſt!
Mit deinen Zähren bade hier dem reinen,
Entſeelten Gott die Marmorfüße bleich —
Weib, ſündlich iſt's vor einem Menſchen weinen
Mit dieſen Augen warm und weich!
Was war ich dir? Der nichtige Vertraute!
Ein Echo, das von deinen Seufzern ſcholl!
Ein Spiegel, drin ſie eitel ſich beſchaute,
Die Zähre, die dir an der Wimper quoll!
War dir die Laute nur, darauf zu breiten
Die Fingerſpitzen und ich hallte ſchön —
Ich haſſe dich!“ Er riß entzwei die Saiten
Mit einem gellen Mißgetön.
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/330>, abgerufen am 03.03.2025. |