Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Die Ampel. An des Jahres Wende sprach ich: Muse, Keiner Mutter Hand bescheert mich! Gieb mir Du mein Angebinde, Muse! fleht' ich. In die Kammer lauschend von dem Lager, Sah ich bald der Schwestern eine schreiten. Auf mein Tischchen setzt' sie einer Ampel Zarte Form mit schlankgeschweiften Henkeln, Aber die mir keineswegs antik schien. Ich erschrack. Was meinst Du, Muse? Räthst Du Nächtlich auszufeilen meine Verse? Schon entschwebend wandte sie das Antlitz Halb. Ich sah des Musenhauptes edeln Umriß mit den spottend feinen Lippen ... Als ich dann in neuem Jahr erwachte, Keine Ampel! Doch ich fand sie wieder -- Und erkannte gleich sie an der zarten Form und an den schlankgeschweiften Henkeln -- In des Liebchens Hand, das mir die Treppe Nächtlich hellt mit stillen Ampelstrahlen. Scheidend auf die letzte Stufe setzt' sie Das Geschenk der Muse sacht und küßt' mich. Die Ampel. An des Jahres Wende ſprach ich: Muſe, Keiner Mutter Hand beſcheert mich! Gieb mir Du mein Angebinde, Muſe! fleht' ich. In die Kammer lauſchend von dem Lager, Sah ich bald der Schweſtern eine ſchreiten. Auf mein Tiſchchen ſetzt' ſie einer Ampel Zarte Form mit ſchlankgeſchweiften Henkeln, Aber die mir keineswegs antik ſchien. Ich erſchrack. Was meinſt Du, Muſe? Räthſt Du Nächtlich auszufeilen meine Verſe? Schon entſchwebend wandte ſie das Antlitz Halb. Ich ſah des Muſenhauptes edeln Umriß mit den ſpottend feinen Lippen ... Als ich dann in neuem Jahr erwachte, Keine Ampel! Doch ich fand ſie wieder — Und erkannte gleich ſie an der zarten Form und an den ſchlankgeſchweiften Henkeln — In des Liebchens Hand, das mir die Treppe Nächtlich hellt mit ſtillen Ampelſtrahlen. Scheidend auf die letzte Stufe ſetzt' ſie Das Geſchenk der Muſe ſacht und küßt' mich. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="156" facs="#f0170"/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Die Ampel.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <l>An des Jahres Wende ſprach ich: Muſe,</l><lb/> <l>Keiner Mutter Hand beſcheert mich! Gieb mir</l><lb/> <l>Du mein Angebinde, Muſe! fleht' ich.</l><lb/> <l>In die Kammer lauſchend von dem Lager,</l><lb/> <l>Sah ich bald der Schweſtern eine ſchreiten.</l><lb/> <l>Auf mein Tiſchchen ſetzt' ſie einer Ampel</l><lb/> <l>Zarte Form mit ſchlankgeſchweiften Henkeln,</l><lb/> <l>Aber die mir keineswegs antik ſchien.</l><lb/> <l>Ich erſchrack. Was meinſt Du, Muſe? Räthſt Du</l><lb/> <l>Nächtlich auszufeilen meine Verſe?</l><lb/> <l>Schon entſchwebend wandte ſie das Antlitz</l><lb/> <l>Halb. Ich ſah des Muſenhauptes edeln</l><lb/> <l>Umriß mit den ſpottend feinen Lippen ...</l><lb/> <l>Als ich dann in neuem Jahr erwachte,</l><lb/> <l>Keine Ampel! Doch ich fand ſie wieder —</l><lb/> <l>Und erkannte gleich ſie an der zarten</l><lb/> <l>Form und an den ſchlankgeſchweiften Henkeln —</l><lb/> <l>In des Liebchens Hand, das mir die Treppe</l><lb/> <l>Nächtlich hellt mit ſtillen Ampelſtrahlen.</l><lb/> <l>Scheidend auf die letzte Stufe ſetzt' ſie</l><lb/> <l>Das Geſchenk der Muſe ſacht und küßt' mich.</l><lb/> </lg> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [156/0170]
Die Ampel.
An des Jahres Wende ſprach ich: Muſe,
Keiner Mutter Hand beſcheert mich! Gieb mir
Du mein Angebinde, Muſe! fleht' ich.
In die Kammer lauſchend von dem Lager,
Sah ich bald der Schweſtern eine ſchreiten.
Auf mein Tiſchchen ſetzt' ſie einer Ampel
Zarte Form mit ſchlankgeſchweiften Henkeln,
Aber die mir keineswegs antik ſchien.
Ich erſchrack. Was meinſt Du, Muſe? Räthſt Du
Nächtlich auszufeilen meine Verſe?
Schon entſchwebend wandte ſie das Antlitz
Halb. Ich ſah des Muſenhauptes edeln
Umriß mit den ſpottend feinen Lippen ...
Als ich dann in neuem Jahr erwachte,
Keine Ampel! Doch ich fand ſie wieder —
Und erkannte gleich ſie an der zarten
Form und an den ſchlankgeſchweiften Henkeln —
In des Liebchens Hand, das mir die Treppe
Nächtlich hellt mit ſtillen Ampelſtrahlen.
Scheidend auf die letzte Stufe ſetzt' ſie
Das Geſchenk der Muſe ſacht und küßt' mich.
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/170>, abgerufen am 03.03.2025. |