Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meinhold, Wilhelm: Maria Schweidler die Bernsteinhexe. Berlin, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
Capitel 20.

Von der Bosheit des Amtshaubtmanns und der
alten Lisen,
item vom Zeugenverhör.


Am andern Morgen waren meine Haare so bis
dato grau mengliret gewest, ganz weiß wie ein
Schnee, wiewohlen mich der Herre sonsten wunderlich
gesegnet. Denn umb Tagesanbruch kam eine Nachti¬
gall in den Fliederbusch vor mein Fenster und sange also
lieblich, daß ich gleich gläubte sie sei ein guter Engel
gewest. Denn nachdeme ich sie eine Zeitlang angehöret,
kunnte ich mit einem Mal wieder beten, was ich seit
dem Sonntag nit mehr können. Und da nun der Geist
unsers Herrn Jesu Christi anhub in meinen Herzen zu
schreien: "Abba lieber Vater!" *) nahm ich daraus eine
gute Zuversicht: Gott wölle mich sein elendig Kind wie¬
der zu Gnaden annehmen, und nachdem ich ihm für so
viel Barmherzigkeit gedanket, gewann ich nach langer
Zeit wieder eine so erquickliche Ruhe, daß die liebe Sonne
schon hoch am Himmel stund, als ich aufwachte.

Und dieweil mir noch also zuversichtlich umbs Herze
war, richtete ich mich im Bette empor und sang mit hel¬
ler Stimmen: "Verzage nicht du Häuflein klein!" wor¬
auf Meister Seep in die Kammer trat, vermeinende ich

*) Galat. 4, 6.
Capitel 20.

Von der Bosheit des Amtshaubtmanns und der
alten Liſen,
item vom Zeugenverhör.


Am andern Morgen waren meine Haare ſo bis
dato grau mengliret geweſt, ganz weiß wie ein
Schnee, wiewohlen mich der Herre ſonſten wunderlich
geſegnet. Denn umb Tagesanbruch kam eine Nachti¬
gall in den Fliederbuſch vor mein Fenſter und ſange alſo
lieblich, daß ich gleich gläubte ſie ſei ein guter Engel
geweſt. Denn nachdeme ich ſie eine Zeitlang angehöret,
kunnte ich mit einem Mal wieder beten, was ich ſeit
dem Sonntag nit mehr können. Und da nun der Geiſt
unſers Herrn Jeſu Chriſti anhub in meinen Herzen zu
ſchreien: „Abba lieber Vater!“ *) nahm ich daraus eine
gute Zuverſicht: Gott wölle mich ſein elendig Kind wie¬
der zu Gnaden annehmen, und nachdem ich ihm für ſo
viel Barmherzigkeit gedanket, gewann ich nach langer
Zeit wieder eine ſo erquickliche Ruhe, daß die liebe Sonne
ſchon hoch am Himmel ſtund, als ich aufwachte.

Und dieweil mir noch alſo zuverſichtlich umbs Herze
war, richtete ich mich im Bette empor und ſang mit hel¬
ler Stimmen: „Verzage nicht du Häuflein klein!“ wor¬
auf Meiſter Seep in die Kammer trat, vermeinende ich

*) Galat. 4, 6.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0178" n="162"/>
      </div>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#g">Capitel</hi> 20.<lb/></head>
        <argument>
          <p rendition="#c"> <hi rendition="#b">Von der Bosheit des Amtshaubtmanns und der<lb/>
alten Li&#x017F;en,</hi> <hi rendition="#aq">item</hi> <hi rendition="#b">vom Zeugenverhör.</hi> </p>
        </argument><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">A</hi>m andern Morgen waren meine Haare &#x017F;o bis<lb/><hi rendition="#aq">dato</hi> grau mengliret gewe&#x017F;t, ganz weiß wie ein<lb/>
Schnee, wiewohlen mich der Herre &#x017F;on&#x017F;ten wunderlich<lb/>
ge&#x017F;egnet. Denn umb Tagesanbruch kam eine Nachti¬<lb/>
gall in den Fliederbu&#x017F;ch vor mein Fen&#x017F;ter und &#x017F;ange al&#x017F;o<lb/>
lieblich, daß ich gleich gläubte &#x017F;ie &#x017F;ei ein guter Engel<lb/>
gewe&#x017F;t. Denn nachdeme ich &#x017F;ie eine Zeitlang angehöret,<lb/>
kunnte ich mit einem Mal wieder beten, was ich &#x017F;eit<lb/>
dem Sonntag nit mehr können. Und da nun der Gei&#x017F;t<lb/>
un&#x017F;ers Herrn Je&#x017F;u Chri&#x017F;ti anhub in meinen Herzen zu<lb/>
&#x017F;chreien: &#x201E;Abba lieber Vater!&#x201C; <note place="foot" n="*)">Galat. 4, 6.</note> nahm ich daraus eine<lb/>
gute Zuver&#x017F;icht: Gott wölle mich &#x017F;ein elendig Kind wie¬<lb/>
der zu Gnaden annehmen, und nachdem ich ihm für &#x017F;o<lb/>
viel Barmherzigkeit gedanket, gewann ich nach langer<lb/>
Zeit wieder eine &#x017F;o erquickliche Ruhe, daß die liebe Sonne<lb/>
&#x017F;chon hoch am Himmel &#x017F;tund, als ich aufwachte.</p><lb/>
        <p>Und dieweil mir noch al&#x017F;o zuver&#x017F;ichtlich umbs Herze<lb/>
war, richtete ich mich im Bette empor und &#x017F;ang mit hel¬<lb/>
ler Stimmen: &#x201E;Verzage nicht du Häuflein klein!&#x201C; wor¬<lb/>
auf Mei&#x017F;ter Seep in die Kammer trat, vermeinende ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0178] Capitel 20. Von der Bosheit des Amtshaubtmanns und der alten Liſen, item vom Zeugenverhör. Am andern Morgen waren meine Haare ſo bis dato grau mengliret geweſt, ganz weiß wie ein Schnee, wiewohlen mich der Herre ſonſten wunderlich geſegnet. Denn umb Tagesanbruch kam eine Nachti¬ gall in den Fliederbuſch vor mein Fenſter und ſange alſo lieblich, daß ich gleich gläubte ſie ſei ein guter Engel geweſt. Denn nachdeme ich ſie eine Zeitlang angehöret, kunnte ich mit einem Mal wieder beten, was ich ſeit dem Sonntag nit mehr können. Und da nun der Geiſt unſers Herrn Jeſu Chriſti anhub in meinen Herzen zu ſchreien: „Abba lieber Vater!“ *) nahm ich daraus eine gute Zuverſicht: Gott wölle mich ſein elendig Kind wie¬ der zu Gnaden annehmen, und nachdem ich ihm für ſo viel Barmherzigkeit gedanket, gewann ich nach langer Zeit wieder eine ſo erquickliche Ruhe, daß die liebe Sonne ſchon hoch am Himmel ſtund, als ich aufwachte. Und dieweil mir noch alſo zuverſichtlich umbs Herze war, richtete ich mich im Bette empor und ſang mit hel¬ ler Stimmen: „Verzage nicht du Häuflein klein!“ wor¬ auf Meiſter Seep in die Kammer trat, vermeinende ich *) Galat. 4, 6.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meinhold_bernsteinhexe_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meinhold_bernsteinhexe_1843/178
Zitationshilfe: Meinhold, Wilhelm: Maria Schweidler die Bernsteinhexe. Berlin, 1843, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meinhold_bernsteinhexe_1843/178>, abgerufen am 21.11.2024.