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Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896.

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Nr. 5.     XV. Jahrgang, I. Band.     1896-97.

Kunst und Proletariat.

Berlin, 21. Oktober 1896.

Auf dem Gothaer Parteitag hat sich eine lange Verhandlung über die
Stellung des modernen Proletariats zur modernen Kunst entsponnen. Es war
gewiß nicht ein Fehler, daß sie an einem konkreten Streitpunkt entbrannte, denn
sie wurde dadurch nur um so belebter und eindringlicher. Aber wenn man ihr
eigentliches Fazit ziehen will, so muß man allerdings den konkreten Streitpunkt
mit seinem Für und Wider aus dem Spiele lassen. In dieser Beziehung
genügt, die Thatsache festzustellen, über die auf dem Parteitag vollkommene
Uebereinstimmung herrschte, daß sich nämlich gegen die in der "Neuen Welt"
vertretene moderne Kunst innerhalb sehr weiter Parteikreise ein lebhafter Wider¬
stand geltend gemacht hat, der diese Kunst als solche trifft. Denn über den Fleiß
und das Talent der Redaktion herrschte ja gleichfalls völlige Uebereinstimmung.

Jene Thatsache selbst wird Niemanden verwundert haben, der wie der
Schreiber dieser Zeilen auf künstlerischem Gebiete jahrelang gemeinsam mit klassen¬
bewußten Arbeitern gearbeitet hat. Man kommt darüber nicht hinweg mit einer
angeblich konservativen Tendenz, die viele Arbeiter trotz allem ökonomischen und
politischen Radikalismus in Sachen der Kunst haben sollen, mit schnellen Schlag¬
worten über Vorliebe für moralische Traktätchen und dergleichen mehr. Diese
Einwände würden zutreffen, wenn die Arbeiter irgend welches Interesse für die
Romane des Fräulein Marlitt und die Schauspiele des Herrn Lindau bekundeten,
indessen davon haben wir nie an irgend einem Arbeiter die geringste Spur ent¬
decken können. Im Gegentheil: die Sorte der Kunst, an welcher sich die heutige
Bourgeoisie vergnügt, verachten die Arbeiter schlechthin, während sie in der
modernen Kunst doch immer eine sehr beachtenswerthe Erscheinung sehen, wofür
nicht zuletzt gerade die leidenschaftliche Heftigkeit ihres Widerstandes spricht. Die
Streitfrage gewinnt aber sofort ein ganz anderes Gesicht, wenn die Arbeiter den
Halbe und Hauptmann nicht etwa die Lindau und Marlitt, sondern je nachdem
die Goethe und Schiller vorziehen.

Nach unseren praktischen Beobachtungen läßt sich der Gegensatz dahin
zusammenfassen, daß die moderne Kunst einen tief pessimistischen, das moderne
Proletariat aber einen tief optimistischen Grundzug hat. Jede revolutionäre
Klasse ist optimistisch; sie sieht, wie der sterbende Rodbertus einmal sagte, die

1896-97. I. Bd. 9

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Nr. 5.     XV. Jahrgang, I. Band.     1896-97.

Kunſt und Proletariat.

Berlin, 21. Oktober 1896.

Auf dem Gothaer Parteitag hat ſich eine lange Verhandlung über die
Stellung des modernen Proletariats zur modernen Kunſt entſponnen. Es war
gewiß nicht ein Fehler, daß ſie an einem konkreten Streitpunkt entbrannte, denn
ſie wurde dadurch nur um ſo belebter und eindringlicher. Aber wenn man ihr
eigentliches Fazit ziehen will, ſo muß man allerdings den konkreten Streitpunkt
mit ſeinem Für und Wider aus dem Spiele laſſen. In dieſer Beziehung
genügt, die Thatſache feſtzuſtellen, über die auf dem Parteitag vollkommene
Uebereinſtimmung herrſchte, daß ſich nämlich gegen die in der „Neuen Welt“
vertretene moderne Kunſt innerhalb ſehr weiter Parteikreiſe ein lebhafter Wider¬
ſtand geltend gemacht hat, der dieſe Kunſt als ſolche trifft. Denn über den Fleiß
und das Talent der Redaktion herrſchte ja gleichfalls völlige Uebereinſtimmung.

Jene Thatſache ſelbſt wird Niemanden verwundert haben, der wie der
Schreiber dieſer Zeilen auf künſtleriſchem Gebiete jahrelang gemeinſam mit klaſſen¬
bewußten Arbeitern gearbeitet hat. Man kommt darüber nicht hinweg mit einer
angeblich konſervativen Tendenz, die viele Arbeiter trotz allem ökonomiſchen und
politiſchen Radikalismus in Sachen der Kunſt haben ſollen, mit ſchnellen Schlag¬
worten über Vorliebe für moraliſche Traktätchen und dergleichen mehr. Dieſe
Einwände würden zutreffen, wenn die Arbeiter irgend welches Intereſſe für die
Romane des Fräulein Marlitt und die Schauſpiele des Herrn Lindau bekundeten,
indeſſen davon haben wir nie an irgend einem Arbeiter die geringſte Spur ent¬
decken können. Im Gegentheil: die Sorte der Kunſt, an welcher ſich die heutige
Bourgeoiſie vergnügt, verachten die Arbeiter ſchlechthin, während ſie in der
modernen Kunſt doch immer eine ſehr beachtenswerthe Erſcheinung ſehen, wofür
nicht zuletzt gerade die leidenſchaftliche Heftigkeit ihres Widerſtandes ſpricht. Die
Streitfrage gewinnt aber ſofort ein ganz anderes Geſicht, wenn die Arbeiter den
Halbe und Hauptmann nicht etwa die Lindau und Marlitt, ſondern je nachdem
die Goethe und Schiller vorziehen.

Nach unſeren praktiſchen Beobachtungen läßt ſich der Gegenſatz dahin
zuſammenfaſſen, daß die moderne Kunſt einen tief peſſimiſtiſchen, das moderne
Proletariat aber einen tief optimiſtiſchen Grundzug hat. Jede revolutionäre
Klaſſe iſt optimiſtiſch; ſie ſieht, wie der ſterbende Rodbertus einmal ſagte, die

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[0015] [Abbildung] Nr. 5. XV. Jahrgang, I. Band. 1896-97. Kunſt und Proletariat. ♐ Berlin, 21. Oktober 1896. Auf dem Gothaer Parteitag hat ſich eine lange Verhandlung über die Stellung des modernen Proletariats zur modernen Kunſt entſponnen. Es war gewiß nicht ein Fehler, daß ſie an einem konkreten Streitpunkt entbrannte, denn ſie wurde dadurch nur um ſo belebter und eindringlicher. Aber wenn man ihr eigentliches Fazit ziehen will, ſo muß man allerdings den konkreten Streitpunkt mit ſeinem Für und Wider aus dem Spiele laſſen. In dieſer Beziehung genügt, die Thatſache feſtzuſtellen, über die auf dem Parteitag vollkommene Uebereinſtimmung herrſchte, daß ſich nämlich gegen die in der „Neuen Welt“ vertretene moderne Kunſt innerhalb ſehr weiter Parteikreiſe ein lebhafter Wider¬ ſtand geltend gemacht hat, der dieſe Kunſt als ſolche trifft. Denn über den Fleiß und das Talent der Redaktion herrſchte ja gleichfalls völlige Uebereinſtimmung. Jene Thatſache ſelbſt wird Niemanden verwundert haben, der wie der Schreiber dieſer Zeilen auf künſtleriſchem Gebiete jahrelang gemeinſam mit klaſſen¬ bewußten Arbeitern gearbeitet hat. Man kommt darüber nicht hinweg mit einer angeblich konſervativen Tendenz, die viele Arbeiter trotz allem ökonomiſchen und politiſchen Radikalismus in Sachen der Kunſt haben ſollen, mit ſchnellen Schlag¬ worten über Vorliebe für moraliſche Traktätchen und dergleichen mehr. Dieſe Einwände würden zutreffen, wenn die Arbeiter irgend welches Intereſſe für die Romane des Fräulein Marlitt und die Schauſpiele des Herrn Lindau bekundeten, indeſſen davon haben wir nie an irgend einem Arbeiter die geringſte Spur ent¬ decken können. Im Gegentheil: die Sorte der Kunſt, an welcher ſich die heutige Bourgeoiſie vergnügt, verachten die Arbeiter ſchlechthin, während ſie in der modernen Kunſt doch immer eine ſehr beachtenswerthe Erſcheinung ſehen, wofür nicht zuletzt gerade die leidenſchaftliche Heftigkeit ihres Widerſtandes ſpricht. Die Streitfrage gewinnt aber ſofort ein ganz anderes Geſicht, wenn die Arbeiter den Halbe und Hauptmann nicht etwa die Lindau und Marlitt, ſondern je nachdem die Goethe und Schiller vorziehen. Nach unſeren praktiſchen Beobachtungen läßt ſich der Gegenſatz dahin zuſammenfaſſen, daß die moderne Kunſt einen tief peſſimiſtiſchen, das moderne Proletariat aber einen tief optimiſtiſchen Grundzug hat. Jede revolutionäre Klaſſe iſt optimiſtiſch; ſie ſieht, wie der ſterbende Rodbertus einmal ſagte, die 1896-97. I. Bd. 9

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Zitationshilfe: Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mehring_kunst_1896/15>, abgerufen am 21.11.2024.