den neutralen Staat zu suchen. Nur ein wahres Nothrecht kann überdieß zuweilen den kriegführenden Theil entschuldi- gen der durch ein Gebiet das sich neutral beträgt wider dessen Willen den Durchmarsch nimmt, oder hier Zuflucht vor dem Feinde suchet.
§. 307. Praxis in Ansehung des neutralen Gebiets.
In einem so wichtigen Punct ist die Praxis der Euro- päischen Völker nichts weniger als gleichförmig. Zwar er- kennet man den Grundsatz an, daß 1) in einem neutralen Land- oder Seegebiet keine Feindseeligkeiten wider Güter des Fein- des angefangen oder fortgesetzt a), mithin auch feindliche Güter aus einem neutralen Gebiet nicht weggenommen werden dürfen. In sehr vielen Verträgen b) ist auch aus- drücklich festgesetzt, daß solche Feindseligkeiten weder began- gen noch geduldet werden sollen, die neutralen Mächte pflegen überdieß in ihren Neutralitäts-Verordnungen bey Ausbruch eines Kriegs desfalls nachdrückliche Verfügungen zu treffen c), und wenn schon Verletzungen dieser Art oft genug begangen worden d), so geben doch die darüber geführten Beschwerden und nicht selten ergriffene gewaltsame Maaßregeln sowohl, als die Entschuldigungsgründe zu welchen der Feind seine Zuflucht nimmt, den Beweiß der Anerkenntniß jenes Grund- satzes des Völkerrechts. Eben daher aber, und da das freundschaftliche Verhältniß der neutralen Macht unpartheyisch gegen beyde kriegführende Theile fortgesetzt werden muß, kann dem kriegführenden Theil der seine Beute in ein neutrales Gebiet einführet dadurch sein Recht auf selbige nicht entzo- gen, und selbst der Verkauf derselben kann unbeschadet der Neutralität ihm gestattet werden, falls nicht ein anderes in Verträgen festgesetzt worden e). Man erkennt 2) den Grundsatz an, daß ohne Erlaubniß selbst der bloße Eintritt und Durchmarsch der Truppen so wenig in Kriegs- als in Friedenszeiten der Regel nach statt finde; allein 3) das Nothrecht welches hier Ausnahme macht, wird nicht selten,
zumahl
Achtes Buch. Siebentes Hauptſtuͤck.
den neutralen Staat zu ſuchen. Nur ein wahres Nothrecht kann uͤberdieß zuweilen den kriegfuͤhrenden Theil entſchuldi- gen der durch ein Gebiet das ſich neutral betraͤgt wider deſſen Willen den Durchmarſch nimmt, oder hier Zuflucht vor dem Feinde ſuchet.
§. 307. Praxis in Anſehung des neutralen Gebiets.
In einem ſo wichtigen Punct iſt die Praxis der Euro- paͤiſchen Voͤlker nichts weniger als gleichfoͤrmig. Zwar er- kennet man den Grundſatz an, daß 1) in einem neutralen Land- oder Seegebiet keine Feindſeeligkeiten wider Guͤter des Fein- des angefangen oder fortgeſetzt a), mithin auch feindliche Guͤter aus einem neutralen Gebiet nicht weggenommen werden duͤrfen. In ſehr vielen Vertraͤgen b) iſt auch aus- druͤcklich feſtgeſetzt, daß ſolche Feindſeligkeiten weder began- gen noch geduldet werden ſollen, die neutralen Maͤchte pflegen uͤberdieß in ihren Neutralitaͤts-Verordnungen bey Ausbruch eines Kriegs desfalls nachdruͤckliche Verfuͤgungen zu treffen c), und wenn ſchon Verletzungen dieſer Art oft genug begangen worden d), ſo geben doch die daruͤber gefuͤhrten Beſchwerden und nicht ſelten ergriffene gewaltſame Maaßregeln ſowohl, als die Entſchuldigungsgruͤnde zu welchen der Feind ſeine Zuflucht nimmt, den Beweiß der Anerkenntniß jenes Grund- ſatzes des Voͤlkerrechts. Eben daher aber, und da das freundſchaftliche Verhaͤltniß der neutralen Macht unpartheyiſch gegen beyde kriegfuͤhrende Theile fortgeſetzt werden muß, kann dem kriegfuͤhrenden Theil der ſeine Beute in ein neutrales Gebiet einfuͤhret dadurch ſein Recht auf ſelbige nicht entzo- gen, und ſelbſt der Verkauf derſelben kann unbeſchadet der Neutralitaͤt ihm geſtattet werden, falls nicht ein anderes in Vertraͤgen feſtgeſetzt worden e). Man erkennt 2) den Grundſatz an, daß ohne Erlaubniß ſelbſt der bloße Eintritt und Durchmarſch der Truppen ſo wenig in Kriegs- als in Friedenszeiten der Regel nach ſtatt finde; allein 3) das Nothrecht welches hier Ausnahme macht, wird nicht ſelten,
zumahl
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Achtes Buch. Siebentes Hauptſtuͤck.
den neutralen Staat zu ſuchen. Nur ein wahres Nothrecht
kann uͤberdieß zuweilen den kriegfuͤhrenden Theil entſchuldi-
gen der durch ein Gebiet das ſich neutral betraͤgt wider deſſen
Willen den Durchmarſch nimmt, oder hier Zuflucht vor dem
Feinde ſuchet.
§. 307.
Praxis in Anſehung des neutralen Gebiets.
In einem ſo wichtigen Punct iſt die Praxis der Euro-
paͤiſchen Voͤlker nichts weniger als gleichfoͤrmig. Zwar er-
kennet man den Grundſatz an, daß 1) in einem neutralen Land-
oder Seegebiet keine Feindſeeligkeiten wider Guͤter des Fein-
des angefangen oder fortgeſetzt a), mithin auch feindliche
Guͤter aus einem neutralen Gebiet nicht weggenommen
werden duͤrfen. In ſehr vielen Vertraͤgen b) iſt auch aus-
druͤcklich feſtgeſetzt, daß ſolche Feindſeligkeiten weder began-
gen noch geduldet werden ſollen, die neutralen Maͤchte pflegen
uͤberdieß in ihren Neutralitaͤts-Verordnungen bey Ausbruch
eines Kriegs desfalls nachdruͤckliche Verfuͤgungen zu treffen c),
und wenn ſchon Verletzungen dieſer Art oft genug begangen
worden d), ſo geben doch die daruͤber gefuͤhrten Beſchwerden
und nicht ſelten ergriffene gewaltſame Maaßregeln ſowohl,
als die Entſchuldigungsgruͤnde zu welchen der Feind ſeine
Zuflucht nimmt, den Beweiß der Anerkenntniß jenes Grund-
ſatzes des Voͤlkerrechts. Eben daher aber, und da das
freundſchaftliche Verhaͤltniß der neutralen Macht unpartheyiſch
gegen beyde kriegfuͤhrende Theile fortgeſetzt werden muß, kann
dem kriegfuͤhrenden Theil der ſeine Beute in ein neutrales
Gebiet einfuͤhret dadurch ſein Recht auf ſelbige nicht entzo-
gen, und ſelbſt der Verkauf derſelben kann unbeſchadet der
Neutralitaͤt ihm geſtattet werden, falls nicht ein anderes in
Vertraͤgen feſtgeſetzt worden e). Man erkennt 2) den
Grundſatz an, daß ohne Erlaubniß ſelbſt der bloße Eintritt
und Durchmarſch der Truppen ſo wenig in Kriegs- als
in Friedenszeiten der Regel nach ſtatt finde; allein 3) das
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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/374>, abgerufen am 01.03.2025.
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