Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
Von der Verjährung.
§. 64.
Ob die Verjährung in dem positiven V. R. gegründet sey.

Die Europäischen Mächte a) berufen sich zwar oft in
ihren Schriften auf Verjährung; sie scheinen sie auch an-
zuerkennen, indem sie um ihre Rechte zu erhalten zu Pro-
testationen ihre Zuflucht nehmen; es scheint auch, daß von
der anerkannten Verbindlichkeit durch zeitige Erklärungen
zu verhindern, daß erregte gegründete Vermuthungen an-
dere Völker nicht in Schaden setzen, ein analogischer Schluß
auf die Verbindlichkeit gelte zu protestiren, wenn sie ihre
Rechte nicht aufgeben wollen: allein 1) sind die Aeußerun-
gen der Mächte oft so widersprechend, daß nicht selten eine
Macht die Verjährung die sie bey einer Gelegenheit be-
hauptete, bey einer andern ableugnet 2) oft verstehn aber
auch die Verfasser der Staatsschriften unter Verjährung
die Erlöschung eines Rechts auf das man stillschwei-
gend durch Handlungen Verzicht geleistet hat, welche
die Einwilligung beweisen; 3) oft sind Protestationen noth-
wendig, um zu verhindern, daß nicht aus künftigen, vielleicht
unvermeidlichen Handlungen, ihre stillschweigende Einwilli-
gung gefolgert werden möge; und wenn 4) auch in andren
Fällen der Weg der Protestationen, als der sicherste ge-
wählet wird, so ist dies kein Geständniß der Ueberzeugung
daß sonst diese Rechte verloren gehn würden, wie auch
5) die Verbindlichkeit anderen einen aus rechtmäßigen Ver-
muthungen entstehenden Irrthum zu benehmen selbst von
dem Europäischen Mächten nicht als eine wahrhaft voll-
kommene Verbindlichkeit anerkannt wird.

Da überdies weder durch einen allgemeinen, noch
durch irgend einen einzigen besondren Vertrag, oder durch
Herkommen, die zur Verjährung erforderliche Zeit unter den
Europäischen Völkern festgesetzt worden, so kann die eigent-
liche Verjährung nicht als Quelle der Rechte der souverai-
nen Staaten in Europa unter einander angesehn werden,
und man gewinnt nichts dabey sie anzunehmen.


Abhän-
Von der Verjaͤhrung.
§. 64.
Ob die Verjaͤhrung in dem poſitiven V. R. gegruͤndet ſey.

Die Europaͤiſchen Maͤchte a) berufen ſich zwar oft in
ihren Schriften auf Verjaͤhrung; ſie ſcheinen ſie auch an-
zuerkennen, indem ſie um ihre Rechte zu erhalten zu Pro-
teſtationen ihre Zuflucht nehmen; es ſcheint auch, daß von
der anerkannten Verbindlichkeit durch zeitige Erklaͤrungen
zu verhindern, daß erregte gegruͤndete Vermuthungen an-
dere Voͤlker nicht in Schaden ſetzen, ein analogiſcher Schluß
auf die Verbindlichkeit gelte zu proteſtiren, wenn ſie ihre
Rechte nicht aufgeben wollen: allein 1) ſind die Aeußerun-
gen der Maͤchte oft ſo widerſprechend, daß nicht ſelten eine
Macht die Verjaͤhrung die ſie bey einer Gelegenheit be-
hauptete, bey einer andern ableugnet 2) oft verſtehn aber
auch die Verfaſſer der Staatsſchriften unter Verjaͤhrung
die Erloͤſchung eines Rechts auf das man ſtillſchwei-
gend durch Handlungen Verzicht geleiſtet hat, welche
die Einwilligung beweiſen; 3) oft ſind Proteſtationen noth-
wendig, um zu verhindern, daß nicht aus kuͤnftigen, vielleicht
unvermeidlichen Handlungen, ihre ſtillſchweigende Einwilli-
gung gefolgert werden moͤge; und wenn 4) auch in andren
Faͤllen der Weg der Proteſtationen, als der ſicherſte ge-
waͤhlet wird, ſo iſt dies kein Geſtaͤndniß der Ueberzeugung
daß ſonſt dieſe Rechte verloren gehn wuͤrden, wie auch
5) die Verbindlichkeit anderen einen aus rechtmaͤßigen Ver-
muthungen entſtehenden Irrthum zu benehmen ſelbſt von
dem Europaͤiſchen Maͤchten nicht als eine wahrhaft voll-
kommene Verbindlichkeit anerkannt wird.

Da uͤberdies weder durch einen allgemeinen, noch
durch irgend einen einzigen beſondren Vertrag, oder durch
Herkommen, die zur Verjaͤhrung erforderliche Zeit unter den
Europaͤiſchen Voͤlkern feſtgeſetzt worden, ſo kann die eigent-
liche Verjaͤhrung nicht als Quelle der Rechte der ſouverai-
nen Staaten in Europa unter einander angeſehn werden,
und man gewinnt nichts dabey ſie anzunehmen.


Abhaͤn-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0105" n="77"/>
          <fw place="top" type="header">Von der Verja&#x0364;hrung.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 64.<lb/><hi rendition="#fr">Ob die Verja&#x0364;hrung in dem po&#x017F;itiven V. R. gegru&#x0364;ndet &#x017F;ey.</hi></head><lb/>
            <p>Die Europa&#x0364;i&#x017F;chen Ma&#x0364;chte <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">a</hi></hi>) berufen &#x017F;ich zwar oft in<lb/>
ihren Schriften auf Verja&#x0364;hrung; &#x017F;ie &#x017F;cheinen &#x017F;ie auch an-<lb/>
zuerkennen, indem &#x017F;ie um ihre Rechte zu erhalten zu Pro-<lb/>
te&#x017F;tationen ihre Zuflucht nehmen; es &#x017F;cheint auch, daß von<lb/>
der anerkannten Verbindlichkeit durch zeitige Erkla&#x0364;rungen<lb/>
zu verhindern, daß erregte gegru&#x0364;ndete Vermuthungen an-<lb/>
dere Vo&#x0364;lker nicht in Schaden &#x017F;etzen, ein analogi&#x017F;cher Schluß<lb/>
auf die Verbindlichkeit gelte zu prote&#x017F;tiren, wenn &#x017F;ie ihre<lb/>
Rechte nicht aufgeben wollen: allein 1) &#x017F;ind die Aeußerun-<lb/>
gen der Ma&#x0364;chte oft &#x017F;o wider&#x017F;prechend, daß nicht &#x017F;elten eine<lb/>
Macht die Verja&#x0364;hrung die &#x017F;ie bey einer Gelegenheit be-<lb/>
hauptete, bey einer andern ableugnet 2) oft ver&#x017F;tehn aber<lb/>
auch die Verfa&#x017F;&#x017F;er der Staats&#x017F;chriften unter Verja&#x0364;hrung<lb/>
die Erlo&#x0364;&#x017F;chung eines Rechts auf das man &#x017F;till&#x017F;chwei-<lb/>
gend durch Handlungen Verzicht gelei&#x017F;tet hat, welche<lb/>
die Einwilligung bewei&#x017F;en; 3) oft &#x017F;ind Prote&#x017F;tationen noth-<lb/>
wendig, um zu verhindern, daß nicht aus ku&#x0364;nftigen, vielleicht<lb/>
unvermeidlichen Handlungen, ihre &#x017F;till&#x017F;chweigende Einwilli-<lb/>
gung gefolgert werden mo&#x0364;ge; und wenn 4) auch in andren<lb/>
Fa&#x0364;llen der Weg der Prote&#x017F;tationen, als der &#x017F;icher&#x017F;te ge-<lb/>
wa&#x0364;hlet wird, &#x017F;o i&#x017F;t dies kein Ge&#x017F;ta&#x0364;ndniß der Ueberzeugung<lb/>
daß &#x017F;on&#x017F;t die&#x017F;e Rechte verloren gehn wu&#x0364;rden, wie auch<lb/>
5) die Verbindlichkeit anderen einen aus rechtma&#x0364;ßigen Ver-<lb/>
muthungen ent&#x017F;tehenden Irrthum zu benehmen &#x017F;elb&#x017F;t von<lb/>
dem Europa&#x0364;i&#x017F;chen Ma&#x0364;chten nicht als eine wahrhaft voll-<lb/>
kommene Verbindlichkeit anerkannt wird.</p><lb/>
            <p>Da u&#x0364;berdies weder durch einen allgemeinen, noch<lb/>
durch irgend einen einzigen be&#x017F;ondren Vertrag, oder durch<lb/>
Herkommen, die zur Verja&#x0364;hrung erforderliche Zeit unter den<lb/>
Europa&#x0364;i&#x017F;chen Vo&#x0364;lkern fe&#x017F;tge&#x017F;etzt worden, &#x017F;o kann die eigent-<lb/>
liche Verja&#x0364;hrung nicht als Quelle der Rechte der &#x017F;ouverai-<lb/>
nen Staaten in Europa unter einander ange&#x017F;ehn werden,<lb/>
und man gewinnt nichts dabey &#x017F;ie anzunehmen.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Abha&#x0364;n-</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0105] Von der Verjaͤhrung. §. 64. Ob die Verjaͤhrung in dem poſitiven V. R. gegruͤndet ſey. Die Europaͤiſchen Maͤchte a) berufen ſich zwar oft in ihren Schriften auf Verjaͤhrung; ſie ſcheinen ſie auch an- zuerkennen, indem ſie um ihre Rechte zu erhalten zu Pro- teſtationen ihre Zuflucht nehmen; es ſcheint auch, daß von der anerkannten Verbindlichkeit durch zeitige Erklaͤrungen zu verhindern, daß erregte gegruͤndete Vermuthungen an- dere Voͤlker nicht in Schaden ſetzen, ein analogiſcher Schluß auf die Verbindlichkeit gelte zu proteſtiren, wenn ſie ihre Rechte nicht aufgeben wollen: allein 1) ſind die Aeußerun- gen der Maͤchte oft ſo widerſprechend, daß nicht ſelten eine Macht die Verjaͤhrung die ſie bey einer Gelegenheit be- hauptete, bey einer andern ableugnet 2) oft verſtehn aber auch die Verfaſſer der Staatsſchriften unter Verjaͤhrung die Erloͤſchung eines Rechts auf das man ſtillſchwei- gend durch Handlungen Verzicht geleiſtet hat, welche die Einwilligung beweiſen; 3) oft ſind Proteſtationen noth- wendig, um zu verhindern, daß nicht aus kuͤnftigen, vielleicht unvermeidlichen Handlungen, ihre ſtillſchweigende Einwilli- gung gefolgert werden moͤge; und wenn 4) auch in andren Faͤllen der Weg der Proteſtationen, als der ſicherſte ge- waͤhlet wird, ſo iſt dies kein Geſtaͤndniß der Ueberzeugung daß ſonſt dieſe Rechte verloren gehn wuͤrden, wie auch 5) die Verbindlichkeit anderen einen aus rechtmaͤßigen Ver- muthungen entſtehenden Irrthum zu benehmen ſelbſt von dem Europaͤiſchen Maͤchten nicht als eine wahrhaft voll- kommene Verbindlichkeit anerkannt wird. Da uͤberdies weder durch einen allgemeinen, noch durch irgend einen einzigen beſondren Vertrag, oder durch Herkommen, die zur Verjaͤhrung erforderliche Zeit unter den Europaͤiſchen Voͤlkern feſtgeſetzt worden, ſo kann die eigent- liche Verjaͤhrung nicht als Quelle der Rechte der ſouverai- nen Staaten in Europa unter einander angeſehn werden, und man gewinnt nichts dabey ſie anzunehmen. Abhaͤn-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/105
Zitationshilfe: Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/105>, abgerufen am 21.12.2024.